Es wird derzeit viel über Russland geredet und berichtet – und das oft von Nicht-Russen. Aber die besten Russlandkenner sind wohl immer noch die Russen selbst. Wir möchten mehr darüber wissen, wie sie ihr Land sehen und haben daher russische Journalistenkollegen um kurze Statements gebeten. Manche betreffen ganz normale Alltagsphänomene, andere gehen auch die aktuelle Krise in der Ukraine ein. Die zweite Folge:

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cms-image-000045273.jpg (Foto: privat)
(Foto: privat)

Maria Simonova aus Tomsk

Im Moment studiere ich in Olmütz, in einer tschechischen Stadt, in der schon vor geraumer Zeit der Frühling ausgebrochen ist. Wenn ich in den sozialen Medien schneeverwehte Fotos aus meiner Heimatstadt Tomsk in Sibirien sehe, dann schaudert es mich regelrecht. Den Winter vergisst du schnell. Aber von den Nachrichten aus meiner Heimat, sei es der Mord an Boris Nemzow oder weniger schreckliche Ereignisse wie irgendwelche absurden Prozesse gegen unsere Kulturschaffenden, schaudert es mich noch mehr. Aber ich bin trotz alledem noch nicht bereit, meine Heimat zu verlassen, um für immer in ein weit entferntes Land zu ziehen, denn ich würde die russische Sprache furchtbar vermissen. Mit ihr ist ja auch meine Arbeit als Journalistin verbunden. Außerdem gibt es so eine Verbindung zu Russland, die schwer zu erklären ist. Im November war ich in Tomsk auf einem Konzert der Band DDT, die bei uns zu den bekanntesten Rockbands zählt. Als Frontmann Juri Schewtschuk den Song „Rodina“ (Heimat) sang, in dem es die Zeile „Sie gefällt uns, obwohl sie wirklich keine Schönheit ist“ gibt, verfiel der ganze Saal in totale Ekstase. Das war wirklich unglaublich, denn eigentlich will der Verstand der emotionalen Erschütterung und der irrationalen Liebe zum Land trotzen, wo die Gegenwart und die Zukunft in einem derartigen Nebel verborgen liegen. Aber trotz allem gibt es solche fantastischen, energetischen Konzerte, es werden erstaunliche Theaterstücke aufgeführt, und deine Lieblingsmannschaft im Fußball bringt dich um den Verstand, weil sie in der vierten Minute der Nachspielzeit das entscheidende Tor erzielt. Und du verstehst, dass du in dieser Weise niemals einen anderen Club lieben wirst.

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cms-image-000045312.jpg (Foto: privat)
(Foto: privat)

Maria Simonowa, rechts im Bild, arbeitet als freie Journalistin und stammt aus Tomsk. Sie liebt Fußball und reist gern. Was sie nicht mag: Hoffnungslosigkeit.

Ruslan aus Moskau

Meine Eltern gaben mir meinen Namen in Erinnerung an meinen Onkel. Vor 29 Jahren wurde ich als Ruslan geboren. Seit dieser Zeit lebe ich in Moskau. In dieser Zeit – und das soll jetzt nicht überheblich klingen – habe ich schon viel erlebt und gesehen. Und alles in allem ist es mir gelungen, mit vielem fertig zu werden. Vielleicht reagiere ich deshalb nicht so emotional auf das, was in meinem Land abgeht. Wir brauchen Veränderungen in vielen Bereichen. Sie sind unumgänglich. Aber was mir am meisten am Herzen liegt: Ich wünsche mir, dass mehr für die Jugend getan wird, so dass sie ihr Potenzial entwickeln kann. Als ich so 18, 19 Jahre alt war, musste ich mich selbst durchschlagen. Das, was ich erreicht habe, habe ich mir selbst zu verdanken. Nach der Schule habe ich irgendwelche einfachen Jobs gemacht, um mir das Geld für die Ausbildung an der Uni zu verdienen. Wenn du kein Kind von reichen Eltern bist, musst du das machen und auch deiner Familie helfen. Dieses Schicksal wird dir einfach auferlegt. Selbst als ganz junger Mensch warst du bei uns in Russland bis vor kurzem gezwungen, dich mit den Herausforderungen der Welt auseinanderzusetzen. Möglicherweise ist unsere Gesellschaft deswegen nicht so optimal. Aber wenn du heute nicht an die Zukunft denkst, dann wird sie für dich möglicherweise erst gar nicht eintreten, die Zukunft. Ich bringe den Namen einer Band ins Spiel, der genau das ausdrückt, was ich zu sagen versuche: „Youth of Today“. Die heutige Jugend ist die Hoffnung auf den morgigen Tag. Und so wird es bis in alle Ewigkeit sein. Wie hat Hemingway doch geschrieben: „Die Jugend ist immer jung. Es sind nur die Generationen, die altern.“

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cms-image-000045313.jpg (Foto: privat)
(Foto: privat)

Ruslan lebt in der russischen Hauptstadt Moskau, wo er in einem Museum arbeitet. Er interessiert sich für Subkulturen und ist ein großer Fußballfan. Weil er bei seinem Lieblingsverein zur linken Fanszene gehört, hält er seinen Nachnamen lieber geheim. Wegen der Fascho-Fans

Organisiert und übersetzt hat die Statements der russischen Journalisten unser Autor Ingo Petz, der in Osteuropa über ein großes Netzwerk verfügt, weil er selber oft von dort berichtet.