Das Heft – Nr. 73

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Druschba*

Aktivisten leben in Russland gefährlich. Verlassen können sie sich oft nur auf wenige. Über die Kraft der Freundschaft in politisch heiklen Zeiten

An einem windigen Herbstabend laufen sieben junge Menschen einen schmalen Wanderpfad entlang. Um sie herum rauschen die Blätter, ein paar Meter weiter rauscht das Meer. Mit tief ins Gesicht gezogenen Mützen wandern sie zur Spitze einer Landzunge. Hinter ihnen liegt nicht etwa die unendliche Tundra, sondern Sankt Petersburg, mit über fünf Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Russlands.

Gleb hält an, hebt eine verrostete Cola-Dose auf, schmeißt sie in seinen Rucksack. „Es ist eine Schande“, sagt er und zeigt nach vorne. Im Gestrüpp liegen Bierdosen, Plastiktüten, Sandwichverpackungen.

Als die Spitze der Landzunge fast erreicht ist, hält die Gruppe an einer Waldlichtung, die überraschend sauber ist – scheinbar unberührte Natur, nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. „Hier haben wir kürzlich aufgeräumt“, erklärt Gleb. „Wenn wir es schön haben wollen, müssen wir selbst dafür sorgen.“

NGOs gelten als ausländische Agenten, Homosexuelle sollen unsichtbar bleiben, der Kreml will das Internet kontrollieren: Unter Putin haben die Aktivisten viel zu tun

Heute führt Gleb, zusammen mit zwei Mitstreiterinnen, vier westeuropäische Touristen in die Natur der Großstadt. Mit alternativen Stadttouren weiten sie den Horizont von Besuchern, die sonst nur Paläste und Schlösser aus der Zarenzeit zu sehen bekommen. Sie bieten einen alternativen Blick auf die Stadt. Nach rechts geht der Blick übers Wasser bis zum höchsten Wolkenkratzer Europas. Er läuft nach oben spitz zu und erinnert an eine Rakete. Zur anderen Seite steht an der Hafeneinfahrt ein kürzlich renoviertes Stadtschild mit meterhohen Buchstaben: Leningrad. So hieß Sankt Petersburg bis zum Zerfall der Sowjetunion. Hier lebt der Name fort.

Olga, Nadja und Gleb sind in den Dreißigern, tragen bisweilen leicht abgewetzte Klamotten, „wir leben konsumreduziert“, sagen sie. Ihre Energie stecken sie lieber in Demonstrationen, zuletzt gegen Wahlfälschung. Oder sie organisieren Aufklärungskampagnen für Drogenkonsumenten und Gesprächsrunden, in denen Menschen über den Tod oder Geschlechterrollen debattieren. Dafür haben sie vor fünf Jahren einen Verein gegründet, „Trava“, das bedeutet „Gras“ – weil es eine Graswurzelbewegung sein soll, wie Olga erklärt: eine Initiative von unten.

Seit Wladimir Putin 2012 nach vier Jahren als Ministerpräsident wieder Staatspräsident geworden ist, werden demokratische Rechte und Freiheiten zunehmend eingeschränkt. Nichtregierungsorganisationen müssen sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen, wenn sie Gelder aus dem Ausland erhalten, das Gesetz gegen sogenannte „Schwulenpropaganda“ zwingt Homosexuelle, sich in der Öffentlichkeit unsichtbar zu machen. Bei den Regionalwahlen wurden viele Oppositionskandidaten nicht zugelassen. Zuletzt trat ein Gesetz in Kraft, das dem Kreml die vollständige Kontrolle des Internets ermöglichen soll. Keine leichten Zeiten für demokratische Aktivisten. „Es ist manchmal entmutigend, aber man darf nicht aufgeben“, sagen die drei. Zusammen mit weiteren Freunden haben sie sich deshalb aufgemacht, eine „empathische Gesellschaft ohne Unterdrückung“ zu erreichen.

Foto: SOPA Images/LightRocket/Getty Images (Foto: SOPA Images/LightRocket/Getty Images)

Junge Russen demonstrieren gegen die Korruption im Land

(Foto: SOPA Images/LightRocket/Getty Images)

Nach der Tour laden Olga, Gleb und Nadja in ihre Wohnung in einem 14-geschossigen Plattenbau. „Was wir machen und was wir sind, lässt sich nicht trennen“, erklärt Gleb. „Bei uns geht das auch gar nicht anders. Weil der russische Staat so repressiv ist, muss ich den Leuten vertrauen können, mit denen ich mich für etwas einsetze.“ Gleb stammt aus Murmansk im Nordwesten Russlands und erzählt, dass er dort einmal erlebt hat, wie ein Polizeispitzel eine aktivistische Gruppe infiltriert hat. „Dabei war das eine Jugendorganisation, die nicht radikal war“, erzählt er. So zwingt der straffe russische Sicherheitsapparat die Aktivisten geradezu in intensive Freundschaften.

Nadja stammt aus Sibirien und hat die Aktionen von Trava zunächst im Internet verfolgt. „Die haben auf dem Höhepunkt der Krise zwischen Russland und der Ukraine Skype-Dates zwischen Menschen in beiden Ländern organisiert, damit die sich nicht entfremden. Das fand ich so stark!“, erzählt sie. „Ja, das war eine Nummer“, sagt Olga. Die Teilnehmer hätten sich teilweise lautstark gestritten. Olga sagt: „Wir haben es halt versucht.“

Nadja berichtet, dass es in der russischen Provinz kaum vergleichbare Gruppen gebe. „Da setzen sich Menschen höchstens für lokale ökologische Belange ein, gegen eine neue Mülldeponie oder so.“ Zu Olga und Gleb ist Nadja während der Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland gestoßen. Die beiden hatten mitten in Sankt Petersburg das „diversity house“ mitorganisiert – eine Plattform für Diskussionen über die Rechte von Schwulen und anderen diskriminierten Minderheiten. „Es war unglaublich, dass so etwas bei uns möglich war!“

Keine Anführer, keine Hierarchien: So bleibt die Gruppe handlungsfähig, wenn Mitglieder verhaftet werden

Nadja hat für die gesamte Gruppe ein Abendessen gekocht. Es gibt einen Auflauf mit Zucchini, Auberginen, Kartoffeln, überbacken mit Käse. Alle Lebensmittel sind „gerettet“, wie Nadja es ausdrückt, sie waren von Supermärkten zur Vernichtung aussortiert worden.

Olga betont eine weitere Besonderheit ihrer Organisation: „Wir arbeiten horizontal!“ Das heißt: keine Anführer und keine Hierarchien. „Das wirkt sich auch positiv auf uns als Freundeskreis aus, weil wir versuchen, jedes Machtgefälle zwischen uns zu vermeiden.“ Gleichzeitig helfe es der Gruppe auch, ak­tionsfähig zu bleiben, denn sie hänge nicht von einzelnen Mitgliedern ab, etwa wenn sie verhaftet werden – wie das Olga bereits selbst passiert ist.

Im Sommer 2017 nahm sie an Protesten teil, zu denen der oppositionelle Politiker Alexej Nawalny aufgerufen hatte. Zwölf Tage saß Olga dafür in Haft. „Die anderen haben mir Hummus und Brot gebracht“, erzählt sie. „Das Essen im Gefängnis war ungenießbar.“

„Was wir hier versuchen, würde ich als politische Bildung beschreiben“

Zum Unterstützernetzwerk, das sich für Olga eingesetzt hat, gehört auch Josh. Als Kanadier fällt der freie Journalist im Freundeskreis auf. „Ich habe irgendwann angefangen, Russisch zu lernen, bin deshalb in Sankt Petersburg gelandet und hängen geblieben“, erzählt er. Er habe durch Couchsurfing bei Mitgliedern von Trava übernachtet und so die anderen kennengelernt. „Was wir hier versuchen, würde ich als politische Bildung beschreiben“, erklärt Josh. Für solche Anliegen brauche man in Russland auch richtig gute Freunde, „sonst wäre das, was wir hier machen, einfach psychisch zu anstrengend“.

Josh selbst veranstaltet Kitchen Talks, ein Format, bei dem sich Menschen in ihren eigenen vier Wänden über das austauschen, was sonst tabuisiert wird. Es ist eine Art zivilgesellschaftliche Gesprächstherapie.

Am Abend wollen die Aktivisten wieder auf eine Expedition, auch wenn es diesmal nicht in die Natur hinausgeht – sondern nach oben. Vom Dach ihres Wohnhauses sehen sie Hafenkräne, Fabrikschlote und in der Ferne die wolkenkratzende Gazprom-Zentrale – aber auch ein verlassenes Wohnhaus in ihrem eigenen Bezirk. Olga zeigt darauf. „Nachdem alle Mieter ausziehen mussten, haben wir dort einen Jugendklub aufgezogen, für die Kinder aus der Nachbarschaft. Es geht in kleinen Schritten voran.“ Der Weg ist weit, aber umsonst gehen sie ihn sicher nicht.

* Russisch für „Freundschaft“

Fotos: SOPA Images/LightRocket/Getty Images

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.