Bis zum Jahr 2015 lebte Rachel Dolezal das Leben einer ganz normalen, politisch engagierten Afroamerikanerin. Sie war Aktivistin der Bürgerrechtsorganisation NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) und arbeitete als Dozentin für afrikanische und afroamerikanische Studien an einer Universität im Bundesstaat Washington. Nach allem, was man weiß, waren die meisten Kollegen zufrieden mit ihr. Sie machte ihre Sache gut. Doch eines Tages ließen ihre Eltern die Bombe platzen. Sie wandten sich an die Presse und zerstörten Rachels Welt. Ihre Tochter lüge. Sie sei gar keine Schwarze, sondern weiß. Sie habe tschechische und deutsche Wurzeln, von afrikanischen sei nichts bekannt. Ihr Vater erklärte: „Sie hat sich so stark in dieser Kultur assimiliert, dass sie dabei eine Identität übernommen hat.“ Es folgte die Veröffentlichung alter Familienfotos, auf denen sie tatsächlich nicht wie die smarte, karamellfarben pigmentierte Afroamerikanerin aussah, als die sie auftrat, sondern wie eine Weiße. Blonde Haare, Sommersprossen, bleiche Haut. Rachel Dolezal war als afroamerikanische Aktivistin erledigt. Die Nachricht von ihrer seltsamen Geschichte ging um die Welt. „Ich identifiziere mich als Schwarze“, verteidigte sie sich, doch der Druck war zu stark: Sie verlor ihre Dozentenstelle und trat von ihrem Posten bei der NAACP zurück.

Schon vor Rachel Dolezal haben sich Weiße als Schwarze ausgegeben (zum Beispiel der Journalist Ray Sprigle, der sich 1948 für sein Buch „I Was a Negro in the South for 30 Days“ maskierte), doch Dolezal wollte für immer schwarz sein, deswegen rief ihre Enttarnung besonders heftige Reaktionen hervor. Für die einen war sie eine Hochstaplerin, die sich afroamerikanische Kultur aneignete und sich danach sehnte, Teil einer unterdrückten Minderheit zu sein. Andere glaubten in ihr eine Pionierin zu erkennen: den Menschen, der sich endgültig von seiner ethnischen Herkunft emanzipiert. Die große Frage lautete: Darf man das? Ist es in einer Welt, in der man in vielen Regionen prinzipiell sein Geschlecht wechseln kann, nicht auch legitim, das mit seiner Hautfarbe zu tun?

In der Soziologie wird das, was Rachel Dolezal tat, „Passing“ genannt. Der Begriff bezeichnet Vorgänge, bei denen die ethnische, körperliche, soziale oder sexuelle Identität von Außenstehenden nicht mehr dekodiert werden kann. Es gibt viele dokumentierte Fälle von „Passing“ (und sicher noch sehr viel mehr undokumentierte), aber die meisten handeln von Schwarzen, die sich dafür entschieden, als Weiße zu leben, um der Diskriminierung zu entgehen. Der Arzt Albert Johnston und seine Frau waren zum Beispiel Afroamerikaner mit relativ heller Haut. Ihre Geschichte ähnelt der, die der Autor Philip Roth in seinem Roman „Der menschliche Makel“ beschrieb. Als Johnston 1929 als Schwarzer keine Arbeit in Chicago fand, zogen sie nach New Hampshire und erzählten dort einfach niemandem mehr von ihrer Abstammung (nicht einmal ihre Kinder wussten es). Die Johnstons fuhren gut damit. Sie hatten das bürgerliche und erfolgreiche Leben, das ihnen als Afroamerikanern verwehrt geblieben war.

Rachel Dolezals Geschichte ist jedoch komplizierter als die der Johnstons. Ihre Motive liegen noch immer weitgehend im Dunkeln. Selbst ihre größten Fans können die Widersprüche ihrer Person kaum leugnen. Dolezal zeigte zum Beispiel 2002 ihre Universität wegen Rassendiskriminierung an. Damals hatte sie ihr „Passing“ offenbar noch nicht vollzogen, denn sie behauptete, sie werde als Weiße gegenüber Schwarzen diskriminiert.

Nach allem, was man aus der Klatschpresse erfährt, soll Dolezal heute als Friseurin mit Spezialgebiet Afro- Flechtfrisuren arbeiten und vor einigen Monaten einen Sohn geboren haben, dessen Name eine Hommage an zwei Helden der afroamerikanischen Kultur ist. Sie hat durch den Skandal viele Freunde verloren und wurde heftig angefeindet. Für 2017 hat sie nun ein Buch angekündigt, in dem sie sich ein für alle Mal rechtfertigen will. Was sie vorab schrieb, klang schon mal interessant. Hautfarbe sei ihrer Meinung nach eben keine biologische Tatsache, sondern ein soziales Konstrukt.