Zwei Wochen ist es her, da kam Holger Kotts neuester Import aus Deutschland an. Ein schüchterner 13-jähriger Junge mit weit auseinanderstehenden Augen, Zahnspange und erstem Flaum über der Oberlippe. Er heißt Marek und ist, so sagt er es zumindest, davor noch nie in seinem Leben verreist. Wenn er über die Vergangenheit spricht, klingt er wie ein trauriger, kaputter Toaster, der erzählt, dass es für ihn leider keine Ersatzteile mehr gibt. Seltsam tonlos und mechanisch spuckt er die trostlosesten Sätze aus: „Als es mit meiner Mutter nicht mehr ging, bin ich zu meinem Vater gezogen. Aber auch der hat mich nicht mehr hingekriegt.“

Ein paar versprengte Holzhäuser und Scheunen auf den Hängen. 20 Einwohner. Pferde, Hühner, Huskys, ein Baumhaus und ein Trampolin. Dahinter der schneebedeckte Gipfel des Mittagsberges und der dunkelgrüne Wald. Vallbo, ein Dorf in Jämtland, irgendwo in der nördlichen Mitte von Schweden, Provinz der Provinz.

Sie haben ihm alle spitzen Gegenstände abgenommen, da hat er halt eine CD-Hülle zerbrochen und sich damit geschnitten

„Ritzen ist eklig. Das habe ich nie gemacht.“ Er ist auch 13 und der zweite Junge aus Deutschland, der zurzeit bei Holger Kott und dessen Frau Tova Hultqvist in Vallbo lebt. Pascal kam schon vor einem halben Jahr an, als sich die Nächte noch ausdehnten und die Tage zu hellen Streifen zusammenschrumpften, die Temperaturen langsam in den zweistelligen Minusbereich sanken und die Leute in Schneemobilen oder Hundeschlitten durch die Gegend brausten. Er hat das pausbäckige Gesicht eines Kleinkindes und die gedrungene Körperhaltung eines Schwergewichtsboxers. Deckung oben, Muskeln angespannt. In ständiger Erwartung des nächsten Schlags. Pascal betont immer wieder, dass er „der Geilste“ sei, schafft es aber in der Praxis augenscheinlich nicht einmal, alleine aufzustehen, seine Kleidung zu wechseln oder Geschirr abzuspülen. In Deutschland ist er aus so vielen Heimen und Wohngruppen weggelaufen, dass er Mühe hat, sie alle aufzuzählen. Er hat geklaut und auch mal ein kleines Feuer in einer Hilfseinrichtung entfacht. Bevor ihn das Jugendamt nach Schweden brachte, schlug er sich in Nordrhein-Westfalen als Obdachloser durch. „Auf der Straße zu leben ist einfach“, sagt er. „Du brauchst nur ’ne Bande, ein paar Ältere, dann geht das schon klar.“
Auf seinem Oberarm sieht man noch ein paar kleine weiße Narben. Ein Souvenir aus seiner Zeit in der geschlossenen Jugendpsychiatrie. Als er dort lebte, waren die Fenster vergittert und die Betten, Tische und Stühle am Boden festgeschraubt. Sie haben ihm alle scharfen und spitzen Gegenstände abgenommen, aber auch das hielt ihn nicht auf. Er zerbrach eine CD- Hülle und schnitt sich damit in die Haut. Pascal schaut angewidert zu Marek.Für Jugendschützer muss das hier allerdings so etwas wie das Paradies auf Erden sein. Härterer Alkohol wird im gesamten Land nur in staatlichen Geschäften verkauft. Drogen sind eine Rarität und die Nachbarn unendlich tolerant (selbst wenn mal ein Jugendlicher im Überschwang bei ihnen einbricht und ihr Geld stiehlt, rasten sie nicht gleich aus). Weglaufen würde auch nicht viel bringen. Die nächste größere Stadt ist 100 Kilometer entfernt. Anders sei es hier, spannend, sagt Marek. Allein diese komische Sprache: Wenn die Leute miteinander reden, versteht man ja kein Wort.

Im Jugendamt befürchteten sie, dass er, wenn er so weitermacht, früher oder später auf den Strich geht oder vergewaltigt wird. Pascals Probleme, das sieht man in seiner Akte, sind keine neuen Probleme, sondern alte Probleme aus der Vergangenheit. Das Genogramm, eine Art Schaltplan der Familie, zeigt: Jede Generation übertrug ihr Unglück auf die folgende. Drogen, Alkohol, Mord und mangelnde Bindungsfähigkeit. Pascals Mutter wurde von ihrer eigenen Mutter nicht angenommen. Sie wuchs bei Pflegeeltern auf, bekam fünf Kinder von drei Männern und gab sie alle ins Heim. Pascal hasst sie und seinen Vater, sich selbst wahrscheinlich auch.

Seine Betreuerin im Jugendamt spricht davon, dass er durchaus intelligent sei. Sie sagt, sie sei überzeugt, dass aus dem Jungen noch was werden kann. Schweden ist für Pascal vielleicht die letzte große Chance, dem Kreislauf zu entkommen. 13 ist ein gutes Alter. 13 bedeutet, dass man noch ein bisschen Kind sein kann und niemand von einem verlangt, ein vollständiger Erwachsener zu sein. 13 bedeutet aber auch: Die Zeit des Scheißebauens sollte langsam mal zu Ende gehen. Nur noch ein paar Monate bis zur Strafmündigkeit.

Im Kern geht es um die Frage aller Fragen in der Sozialarbeit: ob und wie man einen Menschen noch verändern kann. Nachdem, angefangen mit den eigenen Familien, so gut wie alle Institutionen in Deutschland an Pascal und Marek gescheitert waren, gruben ihre jeweiligen Jugendämter sie wie verkümmerte Bäumchen aus der Erde und pflanzten sie weit weg von zu Hause wieder ein. Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung im Ausland nennt sich das offiziell. Und es geschieht nur, wenn die Jugendlichen und ihre Sorgeberechtigten es auch wollen.

Wie Gänseküken watscheln Pascal und Marek nun hinter Holger Kott her durch dieses Land. Er ist der, den sie toll finden sollen, den sie aber auch tatsächlich toll finden, weil sie ihm vertrauen können und er sie durch die Fremde navigiert. Weit weg von ihren Familien, dem Heim, den Problemen und dem Ärger, den es in Deutschland so gegeben hat. Reißende Wildwasserbäche, Seen so groß wie Meere, Spuren von Rentieren, Braunbären und Vielfraßen im Schnee. Die Sonne wandert schräg und ständig blendend wie in Superzeitlupe über den Himmel und tropft erst tief in der Nacht als goldener Schleim herab. Zum Abendessen gibt es selbst gepflückte

Preiselbeeren und vom Nachbarn frisch geschossenen Elch. Selbst die banalsten Alltagshandlungen werden hier zum Abenteuer. Marek kauft sich von seinem Taschengeld eine Cola in einem kleinen Laden im Nachbardorf.

Was heißt: Eine Cola bitte, Holger? Snälla kan jag få en cola?

Aaah! Das schaff ich ja nie! Und auf Englisch?

Can I have a coke, please?

Coke, please. Okay.

Vor der Kassiererin stellt er die Cola auf den Tresen. „Twenty“, sagt sie. Erschrocken dreht er ihr den Rücken zu, schaut sich hilfesuchend um nach Holger Kott.

Was heißt das denn jetzt, Holger? Zehn?

Holger Kott hat weiche, freundliche Gesichtszüge, er sieht deutlich jünger aus als 50, seine Haut ist vom Wetter gegerbt. Er trägt rot-blaue Karohemden und Gummistiefel, seine Muskeln hat er nicht aus dem Fitnessstudio, sondern von der Arbeit im Freien. Holzhacken, Hämmern, Pferdedung wegschippen. Das, was hier draußen eben so nötig ist. Er weiß, welche Pflanzen man essen kann und welche nicht, wo die Fische zu welcher Jahreszeit stehen und wie man zur Not auch mit der Hand eine Forelle fangen kann.

„Mach die lose Rinde ab, die taugt als Zunder“, ruft er Marek zu, als sie durch den Wald stapfen. Der schlägt mit einer kleinen Axt auf den Baum. An einer Birke irgendwo im Unterholz bleiben sie stehen.

„Da oben sind welche“, ruft Kott und deutet auf einen schwarzen, porösen Wulst. „Das ist Chaga. Der Pilz lebt mit dem Baum und verschließt seine Wunde. Daraus kochen wir uns Tee.“ Pascal setzt eine Säge am Rand des Pilzes an und treibt die Zähne in den Stamm. Erst zittrig, dann immer fester und tiefer, bis der Chaga auf den Boden fällt. Der Junge keucht und röchelt bei der Arbeit. Pascal hat mit acht Jahren zu rauchen begonnen, eine Schachtel pro Tag, erst hier in Schweden hat er damit aufgehört.

Schon mit 19 wusste Holger Kott, dass er in der Wildnis leben will. Er wanderte erst nach Kanada aus, um sich eine Blockhütte im Indianerreservat zu bauen, und zog später in den Norden Schwedens. Am Anfang arbeitete er als Tischler und Bergführer. Dann wurde er Erzieher, weil er merkte, dass er anderen helfen will. Holger Kott sagt: „Ich erkenne mich manchmal schon wieder in den Jugendlichen. Still sitzen und in die Schule gehen, das habe ich auch nicht so gerne gemocht.“

Er wird sein altes Leben einfach nicht los. Der Wind bläst ihm den Rauch ins Gesicht, und plötzlich tickt er aus

Als das Feuer knistert, die Würste auf den Holzspießen platzen und der ChagaTee in der Kanne kocht, kommt wieder diese unbeschreibliche Wut über Pascal. Ein Gefühl, das heranbrandet wie eine Flutwelle und alles mit sich reißt. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, sitzt er auf einem Holzstamm und starrt in die Glut. Im Hintergrund rauscht ein Fluss unter tauendem Eis, die Sonne wärmt den Boden. Um ihn herum: Kiefern und Birken und Moos.

„Der Scheißbehinderterkackwind“, knurrt er, „weht mir den Rauch ins Gesicht.“ Wie von einem Dämon besessen springt er auf, brüllt in seiner schrillen Kinderstimme:

„Ich hau dir in die Fresse, ey!“ Fünf Minuten später verfolgt er Marek zum Plumpsklo und versucht, ihn dort einzusperren. Obwohl er betont, auch mal laut werden zu können, erträgt Holger Kott die ihn an schlechten Tagen von frühmorgens bis spät in die Nacht wie ein Stechmückenschwarm umkreisenden Dramen, Streitereien und Provokationen mit geradezu mönchischer Gelassenheit. „Warum musst du so durchdrehen? Fahr doch mal runter. Wie geht es dir jetzt?“, redet er auf Pascal ein. „Scheißebauen ist witzig“, antwortet der.

Jeden Morgen nach dem Frühstück holen sie die Aktenordner der Fernschule aus dem Regal. Sie lernen, solange es die Konzentration der Jugendlichen zulässt. Manchmal eine Stunde. Manchmal nur 20 Minuten lang. Manchmal überhaupt nicht. Aber irgendwann, wenn es gut läuft, ergibt das trotzdem einen Abschluss. Hauptschule oder mittlere Reife. Gemessen an der Ausgangslage ein Riesenerfolg. Holger Kott erzählt, ein Mädchen, das früher mal heroinsüchtig war und dann nach Vallbo kam, habe sogar das Abitur und danach ein Studium in Schweden geschafft.

Was ist acht mal acht, Pascal?

81! Voll langweilig, Mann.

Was ist 2.000 mal 50?

25.000!

Denk noch mal nach!

Boah, is mir egal. Is langweilig!

Das Trampolin: Marek und Pascal lassen sich im Garten in den Himmel katapultieren und sausen wie Kometen zur Erde zurück. Salto, Arschbombe, Freistilkombinationen, stundenlang. Ruhigstellende Medikamente nehmen sie nicht mehr. Sie berühren sich an den Armen und zucken lachend zurück. Elektrischer Strom von Haut zu Haut. Ein kleiner unsichtbarer Blitz.

Viele der Jugendlichen kommen später als Erwachsene noch einmal zurück an diesen Ort

Lärm hallt durch das Dorf. Sie hämmern ein paar Planken ins Baumhaus, raufen ein bisschen, beschuldigen sich irgendwelcher abstrusen Sachen, der hätte dies und das von seinem häuslichen Pflichtenkatalog nicht erfüllt, dieses oder jenes sei furchtbar ungerecht. Dann ziehen sie sich wieder gemeinsam in die Fernsehhütte neben der Pferdekoppel zurück. Fläzen sich in die Sessel und machen irgendeinen Schrottsender aus Deutschland an. Privatdetektive im Einsatz. Shopping Queen. Der Knastarzt. Nachts auch mal heimlich Gayboys live. Softporno im Werbeblock.

Manchmal, sagt Holger Kott, bessere sich ewig nichts, und dann gehe auf einmal alles ganz schnell. Das Zur-Ruhe-Kommen und Sich-auf-sich-selbst-Konzentrieren dauere bei jedem unterschiedlich lang. „Wir sind keine Autowerkstatt. Wir tauschen keine Teile aus. Die Vergangenheit wird immer da sein, aber vielleicht lernen sie hier, mit ihr umzugehen.“

Die einen kriegen Heimweh und brechen ihren Aufenthalt in Vallbo nach ein paar Monaten ab. Andere machen Randale und werden von Holger Kott nach Deutschland oder in ein anderes Auslandsprojekt geschickt. Wiederum andere fahren nach zwei oder drei Jahren mit einem Schulabschluss zurück. Einige bleiben auch für immer, lernen Schwedisch, finden eine Frau oder einen Mann und fangen hier irgendwo zu arbeiten an.

Wie es auch kommt: Das hier ist die Reise ihres Lebens, nur wissen sie es im Moment noch nicht. Vielleicht, das machen viele, kommen Pascal und Marek später ja als Erwachsene im Urlaub noch mal an diesen Ort zurück. Sagen Holger und Tova Hallo, fangen Fische, laufen Ski, reiten und klettern auf den Berg. Erinnerungen an den Geruch des Waldes. Das Plätschern des Wassers. Die Sonne verläuft noch immer beinahe parallel zum Horizont.

„Ich will besser werden, mich besser fühlen“, sagt Marek.

„Ich will ein ganz normales Leben wie alle anderen auch. Keine Kinder, denselben Fehler wie meine Mutter mache ich nicht“, sagt Pascal.

In den Jugendämtern träumen sie von glücklichen und selbstständigen Menschen, aber sie wissen natürlich, dass man sich die nicht backen kann. Die wahren Ziele sind meistens bescheidener: Hauptsache, der Junge kackt uns nicht wieder ab.

*Marek und Pascal heißen natürlich in Wirklichkeit anders. Auch auf Ortsangaben aus ihrer Heimat wurde von der Redaktion verzichtet. Wäre ja blöd, wenn irgendwer in zehn oder 20 Jahren im Internet ihre Namen in Zusammenhang mit dieser Reise liest.