Eine abgemagerte Frau, von Hunger und Winterkälte in den Wahn getrieben, kaut auf ihren abgefrorenen Zehen herum. Galgenbäume sind die einzige Orientierung in einer Landschaft, die einst Wald war und jetzt nur noch eine Steppe aus Baumstümpfen.

Es wirkt wie eine postapokalyptische Welt, die Lukas Kummer in seiner Graphic Novel „Die Verwerfung“ entwirft, und dabei ist es der Südwesten Deutschlands kurz vor Ende des Dreißigjährigen Krieges. Schlachten zwischen Protestanten und Katholiken, Habsburgern und Franzosen, Kaisertreuen und Fürsten fegten zwischen 1618 und 1648 über Mitteleuropa hinweg und „verheerten“ einige Landstriche im wahrsten Wortsinne: Die Armeen und Söldner nahmen sich von der Bevölkerung, was sie kriegen konnten, immer und immer wieder, dazu kamen Pest und Hungersnöte. Die Region rund um Rhein und Main war mit am stärksten betroffen, bisweilen überlebte nur ein Drittel der Bevölkerung.

Die Protagonisten, die der 1988 in Österreich geborene Lukas Kummer in „Die Verwerfung“ durch diese Hölle schickt, sind zwei Waisenkinder, vielleicht 12 und 16 Jahre alt, die sich dem Heer der Schweden anschließen wollen: Jakob und Harald Krainer heißen sie, wobei Harald nur ein Deckname ist. Es handelt sich um Johanna, die ihr Geschlecht lieber verbirgt, um mehr Stärke demonstrieren zu können und nicht zum Opfer von Schändungen zu werden. Sie essen erfrorenes Korn, Baumrinde, und an guten Tagen findet sich in einem ausgeräucherten Bauernhof ein wenig Schweineschmalz.

Kummers Strich ist so dünn und zittrig wie die Überlebenschancen der Geschwister

Johanna als das ältere Kind hat den verantwortungsvollen Part inne und damit auch längst den Pragmatismus der rechtsfreien Wolfsgesellschaft angenommen, in der sie lebt: Jeder ist ein potenzieller Feind, und wer überleben will, muss skrupellos und immer auf der Hut sein. Jakob ist von sensiblerer Natur. Er hat dauernd Husten und auch noch so etwas wie Moral. Hin und wieder haut er depressiv-nihilistische Erkenntnisse raus: „Es ist nicht das Vernichtende, das in allen Dingen steckt, sondern das Selbstvernichtende.“ Oder: „Von dem Tag an, wo Gott die Erde gemacht hat, hat sich davon Stück und Stück immer alles ein bisschen mehr in Unrat verkehrt.“

Mit harten Kontrasten setzt Lukas Kummer das Elend in Szene, nur Schwarz, Weiß und einen Grauton erlaubt er sich, aber keine Schraffuren und Zwischenstufen. Kummers Strich ist so dünn und zittrig wie die Überlebenschancen der Geschwister Krainer, die verloren über weiße Seiten laufen – die Hintergründe lässt Kummer fast immer leer. In den massiven Weißraum sind Buchstaben dünn wie Gerippe gesetzt.

„Die Verwerfung“ ist die Abschlussarbeit Lukas Kummers an der Kunsthochschule Kassel. Es ist ein stilistisch enorm starkes Comic-Debüt und als Leseerlebnis absolut demoralisierend. Dennoch bleibt man dran, will man wissen, ob und wie es weitergeht mit „Harald“ und Jakob, ob sie durchkommen und sich dabei noch ein wenig Menschlichkeit bewahren können.

Klarkommen mit den Superkräften

Erschienen ist „Die Verwerfung“ im Januar bei Zwerchfell, einem kleinen Indie-Comicverlag aus Stuttgart – und der hat parallel gleich noch ein weiteres Debüt mit Teenagern in der Hauptrolle veröffentlicht. Das allerdings könnte kaum unterschiedlicher sein: Statt in der Vergangenheit spielt Moritz von Wolzogens „Totality“ in einer leicht futuristischen Alternativgegenwart, in einer Metropole mit dem seltsam provinziellen Namen St. Georgen. Hier gehen Alex, Merle und Simon in eine Klasse. Die drei sind ein wenig wie die X-Men, sie haben spezielle Fähigkeiten. Was cooler klingt, als es ist, denn als Jugendlicher ist jede Abweichung von der Norm ein Freakfaktor. Auch die drei Protagonisten machen Erfahrungen mit Mobbing.

Pubertät und aufkeimende Superkräfte sind natürlich eine beliebte Symbolik-Kombi für Kontrollverlust, Selbstfindung und das Klarkommen mit dem eigenen Körper. Vor allem Alex, den alle Storch nennen, hat damit zu kämpfen: Mit seinen Augen kann er Hologramme erzeugen. Doch wenn er wütend wird, verselbständigen sich seine Kräfte. Simon hingegen hat Wunderheilungsfähigkeiten – was bedeutet, dass er beispielsweise seine Hand mit Haarspray und einem Feuerzeug in eine Feuerklaue verwandeln kann, ohne Schaden zu nehmen. Merle wiederum ist ein Erfindergenie, ihr Zimmer ist eine riesige Bastel- und Lötwerkstatt, sogar ein Smartphone hat sie schon konstruiert. Sie bedrückt, dass der Bruder ihrer besten Freundin im Koma liegt.

So atemlos, überdreht und voll überschüssiger Energie wie der Seelenzustand eines Teenagers gestaltet Moritz von Wolzogen auch seinen Comicband. Die Zeichnungen wirken leicht, mitunter wie hingeworfene Bleistiftskizzen, und sind doch unheimlich reich und detailliert. Die Seitenlayouts sind hochkomplex, von Wolzogen hat eine Vorliebe für fragmentierte, ineinander verschachtelte Bildstrukturen. Die vielen extremen Hoch- und Querformate steigern die ohnehin schon hohe Dynamik.

Auch narrativ ist „Totality“ eine Herausforderung: Einerseits passiert gar nicht viel, andererseits gibt es diverse Andeutungen, als wäre der Band nur der Auftakt zu einer komplexen Serie. Die zweite Hälfte des Comics wird schließlich dominiert von einer langen, symbolüberladenen Traumsequenz, ein Impressionsgewitter mit viel interpretatorischem Spielraum; um etwa die Anzeichen für den Überwachungsstaat zu entdecken, von dem im Klappentext die Rede ist, muss man schon sehr genau hinsehen.

Das Grundthema von „Totality“ hingegen ist ganz klar: Es geht um Freundschaft, Vertrauen und Zusammenhalt. Werte, die schon seit Jahrhunderten hinweg Bestand und Bedeutung haben.

Lukas Kummer: „Die Verwerfung“. Zwerchfell Verlag, Stuttgart 2015, 120 Seiten, 20 Euro

Moritz von Wolzogen: „Totality“. Zwerchfell Verlag, Stuttgart 2015, 128 Seiten, 12,99 Euro