Der erste Brief, den Vater Staat seinem Kind schickt, ist ein Brief vom Bundeszentralamt für Steuern. Ein paar Wochen nach der Geburt jedes Babys liegt der Umschlag aus chlorfrei gebleichtem Papier im Briefkasten, und darin steht:

Sehr geehrte Dame, sehr geehrter Herr, das Bundeszentralamt für Steuern hat Ihnen die Identifikationsnummer 49 175 034 86 zugeteilt.

Dass Bundesbürger schon eine Steueridentifikationsnummer bekommen, noch bevor sie laufen können, hat auch damit zu tun, dass jeder in Deutschland gemeldete Mensch vom ersten Tag seines Lebens an Teil des Generationenvertrages ist. Denn Vater Staat rechnet damit, dass das Baby eines Tages arbeiten wird und Steuern zahlt und so seinen Anteil am Generationenvertrag erfüllt, der vorsieht, dass die Jungen mit ihren Steuern die Renten der Alten sichern.

So gesehen sind die Milliarden, die der Staat jedes Jahr für Familien ausgibt, eine gute Investition. Dennoch wird die Familienpolitik, die eigentlich nichts anderes im Sinn hat, als Familien zu unterstützen, immer wieder heftig kritisiert: Unübersichtlich und widersprüchlich sei sie, und außerdem wenig effizient. Die Geburtenrate sei viel zu niedrig, und es gebe noch immer zu viele Kinder, die im reichen Deutschland unterhalb der Armutsgrenze leben. Die Frage, die über allem steht, heißt: "Sie fließen in 156 verschiedene Leistungen, die nur zu einem relativ geringen Teil direkt an Familien mit Kindern ausgezahlt werden", sagt Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Der Großteil des Geldes wird nicht etwa für Kindergeld ausgegeben, sondern fließt beispielsweise ins Steuer- oder Rentensystem, in die Krankenversicherung oder die Wohnraumförderung. Bujard hat ausgerechnet, dass die Ausgaben für Kinder eigentlich nur bei insgesamt 86,3 Milliarden Euro liegen, wenn man ehebezogene und Sozialversicherungsleistungen abzieht. Immer noch reichlich Geld, sollte man meinen. Tatsächlich gehen davon pro Jahr 39,2 Milliarden für Kindergeld weg, das monatlich für mehr als 14 Millionen Kinder ausgezahlt wird.

Etwa genauso viel Geld wird für die Renten von Witwen und Witwern ausgegeben, auch das ist Familienpolitik. Oder dass Paare, die gar keine Kinder haben, durch das Ehegattensplitting Steuern sparen. Knapp 20 Milliarden Euro pro Jahr kostet das Ehegattensplitting, viermal so viel wie die Ausgaben für das sogenannte Elterngeld, mit dem erwerbstätige Eltern gelockt werden, ein paar Monate zu Hause bei ihren Kindern zu bleiben. Auch wegen des Ehegattensplittings wird die deutsche Familienpolitik von vielen kritisiert. Sie fördere die Falschen, und die, die wirklich Kinder großzögen, sähen viel zu wenig von all dem Geld.

Wer beeinflusst die Familienpolitik? Und vor allem: in welche Richtung?

Welche Ziele für die Familienpolitik definiert werden, hängt ganz davon ab, wer sie festschreibt. "Traditionell sind beispielsweise die Arbeitgeberverbände daran interessiert, dass Mütter dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Kirchliche Verbände dagegen setzen sich oft für Armutsbekämpfung oder eine bessere Bildung ein", sagt Martin Bujard. "Man kann beobachten, dass Arbeitgeber häufig eine stärkere Lobby haben als klassische Familienverbände. Aber primär hat die Familienpolitik die ökonomische Sicherung der Familien, die Stärkung des Wohlbefindens der Kinder und die Wahlfreiheit der Eltern als Ziel."

Auch deshalb fördert der Staat mit seinen Leistungen ganz verschiedene Lebensmodelle: So investiert er zum einen massiv in den Ausbau von Kindertagesbetreuung, zum anderen unterstützt er mit dem Betreuungsgeld Eltern, die ihre Kleinkinder zu Hause erziehen möchten. Gesellschaftliche Veränderungen und staatliche Fördermaßnahmen beeinflussen sich dabei gegenseitig: Wenn immer mehr Eltern arbeiten gehen wollen, brauchen sie Kindertagesstätten, in denen ihre Kinder gut aufgehoben sind. Wenn Vater Staat dann Geld in den Kita-Ausbau steckt, überlegen sich vielleicht noch mehr Eltern, arbeiten zu gehen. Und seitdem es das Elterngeld gibt, das in voller Höhe nur dann ausbezahlt wird, wenn beide Elternteile einige Monate zu Hause bei ihrem Baby bleiben, nehmen auch viel mehr Väter Elternzeit.

Warum genießt eigentlich die Ehe einen besonderen Schutz?

Dass die Mutter das Essen kocht und abends auf den Tisch stellt, war für viele lange Zeit selbstverständlich. Bis Mitte 1977 war das "bürgerliche Familienmodell", in dem der Vater arbeitet und die Mutter sich um Haushalt und Kinder kümmert, sogar im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. Und erst seit diesem Jahr hat der Staat anerkannt, dass man nicht verheiratet sein muss, um mit dem gemeinsamen Kind "in sozial-familiärer Gemeinschaft" zu leben und eine im Sinne des Grundgesetzes "geschützte Familie" zu bilden. Auch kämpfen Väter im Falle einer Trennung – mittlerweile mit einigem Erfolg – schon seit einigen Jahren dafür, dieselben Rechte zu haben wie Mütter.

Solche gesetzlichen Änderungen sind auch deshalb so wichtig, weil Ehe und Familie besonderen staatlichen Schutz genießen, garantiert durch Artikel 6 des Grundgesetzes. Wer als Familie anerkannt wird, genießt nicht nur im Steuersystem besondere Privilegien, sondern ist auch vor Übergriffen des Staates in die Erziehung bis zu einem gewissen Punkt geschützt. Erst wenn das Wohlergehen der Kinder in Gefahr ist, haben einige Institutionen das Recht, in den Familienalltag einzugreifen. Dann schickt das Jugendamt professionelle Helfer oder nimmt im Ausnahmefall auch einmal Kinder aus den Familien heraus (siehe Reportage auf Seite 28).

Der Staat hat ein ureigenes Interesse daran, Familien zu unterstützen. Familien leisten mit der Kindererziehung nicht nur einen Beitrag für das Funktionieren des staatlichen Gefüges, der kaum zu überschätzenist, sie spielen darüberhinaus für viele Politikfelder schon deshalb eine große Rolle,weil es in Deutschland über acht Millionen Familien mit minderjährigen Kindern im Haushalt gibt.

Querschnittspolitik? Was soll das denn sein?

Das wirkt sich auch auf die Entscheidungsfindung der Politiker aus, hat Martin Bujard beobachtet: "Für familienpolitische Maßnahmen gibt es schneller Mehrheiten im Politikbetrieb als für die meisten anderen Entscheidungen. Mit ihnen werden ganz einfach oft viele Interessen getroffen, und es bilden sich Interessenkoalitionen, die auf anderen Feldern kaum denkbar wären."

Die Ziele der Familienpolitik überschneiden sich beispielsweise mit Zielen der Arbeitsmarkt- oder auch der Bildungspolitik. Auch deshalb ist sie eine Querschnittspolitik, deren Maßnahmen sehr heterogen und über verschiedene Ministerien verteilt sind.

Direkt nach der Geburt sendet Vater Staat seinem neugeborenen Mitglied also nicht nur den Brief mit der Steueridentifikationsnummer. Er schickt auch das Mutterschaftsgeld aufs elterliche Konto, das Elterngeld und das erste Kindergeld. Für das übrigens nicht das Familienministerium zuständig ist, sondern das Finanzministerium.