Einer schönen Legende zufolge reiste einst ein Indianer erstmals mit der Eisenbahn. Am Ziel angekommen, setzte er sich auf den Bahnsteig und verkündete seinen überraschten Begleitern: „Wenn du an einen neuen Ort gelangst, warte. Es braucht Zeit, bis die Seele nachkommt.“ Vordergründig erzählt diese kleine Anekdote vom diffusen Unbehagen des nomadischen Menschen gegenüber den Errungenschaften der Zivilisation. Tatsächlich kennen auch moderne Menschen dieses Unbehagen nur zu gut. Es ist ihr eigener Körper, der ihnen davon erzählt.

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Was ist denn das für eine Arbeitshaltung? Irgendwie geht das heutige Leben an den Bedürfnissen unseres Körpers vorbei (Foto: Lars Tunbjörk/VU/laif)

Was ist denn das für eine Arbeitshaltung? Irgendwie geht das heutige Leben an den Bedürfnissen unseres Körpers vorbei

(Foto: Lars Tunbjörk/VU/laif)

Seit einiger Zeit sind nicht nur, wie seit Jahrtausenden, übertragbare Krankheiten oder Seuchen die größten gesundheitlichen Geißeln der Menschheit – sondern auch die sogenannten Zivilisationskrankheiten. Wie kann aber etwas krank machen, das einer gewaltigen Zahl von Menschen mehr Annehmlichkeiten beschert?  Der Mediziner und Forscher Detlev Ganten brachte das Problem in seinem gleichnamigen Buch auf eine Formel: „Die Steinzeit steckt uns in den Knochen“. Die Zivilisation schreitet mit einer Geschwindigkeit voran, bei der die Evolution mit ihren genetischen Mutationen nicht mitkommt. Unsere Körper sind diejenigen aggressiver Affen, die in geschlossenen Gruppen durch die Steppe streifen und gelernt haben, aufrecht zu gehen und Gebrauch von ihren frei gewordenen Händen zu machen. Wir sind dafür konstruiert, täglich 30 Kilometer zu laufen, schnell die Flucht zu ergreifen und jede Kalorie zu speichern. So eroberten wir jeden Winkel der Erde – bis wir in der Jungsteinzeit dieses nomadische Dasein zugunsten der Sesshaftigkeit aufgaben. Viehzucht und Ackerbau traten an die Stelle von Treibjagden und dem Sammeln von Beeren.

Dies war die erste Revolution. Während die Mehrzahl der Europäer im 19. Jahrhundert unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen litten, leiden sie heute unter dem Komfort selbst. Und wer mit seinen chronischen Rückenschmerzen endlich zum Arzt geht, wird nur selten eine chronische Ursache finden. Weil unsere Probleme mit Rund- und Hohlrücken bis hin zu krankhaften Verformungen der Wirbelsäule nur wenig über individuelles Fehlverhalten verraten.

Umso mehr erzählen unsere Beschwerden über die Welt, in der wir leben. Es ist eine Welt, in der wir unseren Lebensunterhalt überwiegend im Sitzen bestreiten. Wir sitzen zu Tisch, sitzen im Bus, sitzen im Büro, sitzen in der U-Bahn und sitzen abends vor dem Fernseher. Nicht wir passen uns an diese Umstände an, unsere „ergonomischen“ Stühle tun das für uns. Unsere Augen sind noch immer im Grünspektrum besonders leistungsfähig, weil im grünen Dickicht einst Nahrung und Gefahren lauerten – heute schauen wir damit auf Bildschirme und werden kurzsichtig. Und bevor unsere Augen sich daran anpassen, korrigieren wir die Fehlsicht mit Brillen.

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Stummer Schrei nach Beinfreiheit: Der Körper würde lieber 30 Kilometer am Tag laufen (Foto: Lars Tunbjörk/VU/laif)

Stummer Schrei nach Beinfreiheit: Der Körper würde lieber 30 Kilometer am Tag laufen

(Foto: Lars Tunbjörk/VU/laif)

Mit Händen, die ursprünglich fürs Festhalten an Ästen konstruiert waren und später „lernten“, Werkzeuge herzustellen und zu nutzen, werden gerade in den technologisch besonders fortschrittlichen Gesellschaften vor allem mobile Geräte wie Smartphones und Tablets bedient. In Japan ist seit den Nullerjahren von „oya yubi sedai“ die Rede, der „Generation Daumen“ – weil das exzessive Versenden von SMS-Nachrichten bei Jugendlichen bereits einen erkennbar muskulöseren Daumen erzeugt hat. Eine Sehnenscheidenentzündung gehört hier noch zu den geringeren Übeln. In den USA wird der chronische und oft unheilbare „Maus-Arm“ mit Beschwerden von der Hand bis in den Nacken als RSI-Syndrom bezeichnet, als „Verletzung durch wiederholte Belastung“ beschrieben und als Berufskrankheit anerkannt.

Nun sind diese gesundheitlichen Tücken der avancierten Kommunikationsgesellschaft eher lustige Zipperlein – verglichen mit den echten Zivilisationskrankheiten. War früher der Mangel an Nahrung tödlich, ist es heute in Verbindung mit fehlender Bewegung ihr Überschuss. Wir essen zu viel, zu fett, zu schlecht. Auf industriell produzierte Kohlehydrate in konzentrierter Form sind unsere Körper nicht eingestellt. Dafür haben wir uns rasch auf Zucker konditioniert, den unser Körper, noch immer in Erwartung eiszeitlicher Winter, erfreut umwandelt und als Speckpolster anlagert. Alleine in Deutschland ist inzwischen jeder zweite Erwachsene übergewichtig, was ab einem bestimmten Punkt ein ganzes Bündel von Erkrankungen begünstigt – von verschiedenen Herz- und Kreislaufbeschwerden über Diabetes bis zu überlasteten Gelenken.

Ein aktueller Gegentrend ist hier die „Paläo-Diat“, die sich an der Ernährung unserer Jäger-und-Sammler-Vorfahren orientiert. Passionierte Langstreckenläufer steuern auf sportlicher Ebene gegen. Dabei wirken sich sogar vermeintliche Errungenschaften vermutlich negativ aus. Lebten wir früher sprichwörtlich und buchstäblich im Dreck, wird unsere Umwelt immer keimfreier. Was zwar die Sterblichkeitsrate gerade bei Kindern senkt, die Gefahr von Autoimmunkrankheiten aber erhöhen soll – einfach, weil die körpereigenen Abwehrkräfte ihre natürlichen Feinde nicht mehr kennenlernen.

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Träumen von einem Leben, aufwachen in der Bürohölle (Foto: Lars Tunbjörk/VU/laif)

Träumen von einem Leben, aufwachen in der Bürohölle

(Foto: Lars Tunbjörk/VU/laif)

Auch auf psychischer Ebene hinken wir hinterher. Stress wird schon lange als Überforderung durch die zahllosen Reize einer beschleunigten Welt wahrgenommen. Neuerdings bezeichnen Forscher schon Angststörungen und sogar die Depression als eine Zivilisationskrankheit. Früher war es womöglich evolutionär sinnvoll, wenn antriebslose und ängstliche Mitglieder der Gruppe über Gefahren wie den Säbelzahntiger oder den Hunger grübelten – und irgendwann Lösungen wie das Feuer oder den Speer präsentierten. Individuelles Leiden ist dabei für die Evolution irrelevant. Bei ihr dreht sich alles um die Gattung, ihr Überleben und ihre Fortpflanzung. Ganz egal, ob die einzelne Seele nachkommt. Oder auch nur der Körper.

Arno Frank ist arbeitet als Korrespondent der „taz“ und schreibt als freier Kulturjournalist unter anderem für die „Zeit“, „Spiegel Online“ und „Neon“.