Regen ist in Ägypten äußerst selten, und dennoch gibt es große Flächen, auf denen Mais, Baumwolle oder Zuckerrohr angebaut werden. Ohne das Wasser aus dem Nil wäre das unmöglich. Im Nildelta konzentrieren sich die Wirtschaft und die Menschen, fast seinen kompletten Wasserbedarf deckt Ägypten aus dem längsten Fluss der Erde, dessen Quellen Tausende Kilometer flussaufwärts liegen. 

In der sudanesischen Hauptstadt Khartum fließen der Weiße und der Blaue Nil zusammen, wobei der in Äthiopien entspringende Blaue Nil 85 Prozent des Wassers mit sich führt, das von dort Richtung Ägypten fließt. Die Regierung in Kairo beansprucht nach wie vor über drei Viertel des gesamten Nilwassers, den Rest teilen sich zehn weitere Staaten: Ruanda, Burundi, die Demokratische Republik Kongo, Tansania, Kenia, Uganda, Südsudan, Sudan, Äthiopien und Eritrea. 

Bei der Nutzung des Nils beruft sich Ägypten, aber auch der Sudan, auf Verträge, die 1929 mit der britischen (Ex-)Kolonialmacht abgeschlossen wurden. Seitdem steht Ägypten der Großteil des Nilwassers zu. Außerdem hat die Regierung theoretisch ein Vetorecht gegen Bauvorhaben am Oberlauf des Flusses. Nach dem Militärputsch vom Sommer 2013 hat Ägypten die historischen Wassernutzungsrechte sogar in seine neue Verfassung aufgenommen. Bei einer Bedrohung der Wasserversorgung durch andere Staaten ist die Armee autorisiert, sofort zu intervenieren, ohne die Zustimmung des Parlaments einholen zu müssen. 

Doch die Machtverhältnisse am Nil verschieben sich. Die Aufstände in der arabischen Welt haben Ägyptens Vormachtstellung in der Region ins Wanken gebracht. Die Abspaltung des Südsudan vom Sudan brachte einen weiteren Nilanrainer auf die Landkarte. Gleichzeitig stieg Äthiopien zur neuen Ordnungsmacht auf. Das Land weist seit Jahren hohe Wirtschaftswachstumsraten auf und erhält als strategischer Partner des Westens Milliarden an Entwicklungs-, Nahrungsmittel- und Militärhilfe. Die US-Armee schickt von Äthiopien aus Drohnen nach Somalia. 

Mit rund 100 Millionen Menschen ist Äthiopien nach Nigeria das zweitbevölkerungsreichste Land Afrikas, bis 2050 könnte sich die Zahl sogar annähernd verdoppeln. Alles Menschen, die Nahrung und Energie benötigen, und dafür soll auch der Nil sorgen. „Äthiopiens neue Stärke ist gleichbedeutend mit dem Ende der ägyptischen Vormachtstellung in der Nilwasserfrage“, sagt Tobias von Lossow, der am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit zum Nil-Konflikt arbeitet. 

Die äthiopische Regierung will die Landwirtschaft ausweiten und benötigt dafür das Wasser des Nils. Das lässt in Ägypten besorgte Fragen aufkommen: Was, wenn die Länder am Oberlauf dem Nil mehr Wasser entnehmen als bisher? Oder in Äthiopien Staudämme entstehen, die Ägypten buchstäblich den Hahn abdrehen könnten?

Dieses Szenario nimmt derzeit Gestalt an. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung kann Äthiopien Projekte umsetzen, für die lange kein Geld vorhanden war – zum Beispiel den Bau von zwei Riesen-Staudämmen: dem Gilgel-Gibe-III-Damm und dem Grand-Ethiopian-Renaissance-Damm – dem größten Wasserkraftprojekt Afrikas. Allein die Staumauer soll 150 Meter hoch werden, die Turbinen könnten vom nächsten Jahr an 6.000 Megawatt Strom liefern, so viel wie fünf Atomkraftwerke. Dabei wäre diese Strommenge viel größer als der äthiopische Bedarf, ein Teil könnte also zum Beispiel in den Sudan, nach Tansania oder Ägypten exportiert werden. Eine bessere Stromversorgung könnte außerdem bedeuten, dass weniger Bäume für Feuerholz gefällt würden. Das wiederum würde die Erosion der Böden verlangsamen und die Ernten verbessern. Aber das alles würde auch am Selbstbewusstsein der Ägypter kratzen, die sich weder von Nahrungsmittel- noch von Energieimporten abhängig machen wollen. 

Vor einem Jahr trafen sich die Staatsoberhäupter Ägyptens, Sudans und Äthiopiens und verabschiedeten eine Grundsatzerklärung über die friedliche Nutzung des Nils. Ein Fortschritt, nachdem jahrelang kriegerische Töne aus Kairo kamen. Mal fragten Abgeordnete im Parlament, warum man die Dämme Äthiopiens nicht bombardiere, dann wieder wurde der Geheimdienst beauftragt, mögliche Sprengungen zu prüfen. Momentan sieht es so aus, als kämen alle Seiten zu der Einsicht, dass eine Zusammenarbeit in Fragen des Nils allen nützen könnte, zumal im riesigen Auffangsee des ägyptischen Assuan-Staudamms jedes Jahr unglaublich große Mengen an Wasser verdunsten, weil er mitten in einer Wüste liegt. Würde der Nil bereits im äthiopischen Hochland gestaut, ließen sich die Anbauflächen in Äthiopien erheblich vergrößern. Auch bei der Stromproduktion könnten die Flussanrainer zusammenarbeiten. Während das Gefälle des Nils in Ägypten eher gering ist, gibt es im äthiopischen Hochland ein großes Potenzial, Wasserkraft zu nutzen. 

Das Nilwasser werde einfach nicht effizient eingesetzt, sagt Nilexperte Tobias von Lossow. Ägypten nutze das Wasser bislang vielerorts zum Anbau von Baumwolle, was zwar viel Gewinn bringt, aber äußerst wasserintensiv ist und die Produktion von Nahrungsmitteln verdrängt. Vernünftig wäre es zudem, so von Lossow, wenn Staaten wie Äthiopien, die aufgrund der natürlichen Gegebenheiten für die Nahrungsmittelproduktion geeigneter sind, mehr Getreide exportierten. 

Tatsächlich investieren ägyptische Unternehmen bereits in äthiopisches Ackerland. Die Ernte wird zum Teil exportiert und ernährt so auch Ägyptens wachsende Bevölkerung. Das Ziel: ein Nil, der die Länder verbindet, statt sie zu entzweien.