Der Wille ist nicht frei

Morgens in der Küche. Im Kühlschrank stehen zwei Marmeladen – Himbeere und Aprikose. Vor dem Kühlschrank stehe ich, habe Hunger und nehme die Himbeermarmelade, weil ich heute ein Brot mit Himbeermarmelade essen will. Aber frei entschieden habe ich mich dazu nicht. Denn der Wille ist nicht frei – das haben Neurobiologen festgestellt.

Hirnforscher wie etwa der Bremer Professor Gerhard Roth bezeichnen den freien Willen als Illusion. Lange Zeit glaubte man in den Naturwissenschaften, es könne nicht wissenschaftlich geklärt werden, ob der Wille frei ist oder nicht – die Fragestellung sei daher eine rein philosophische. Nach den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaftler ist es jedoch nicht meine freie Willensentscheidung, ob ich mir zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Himbeermarmeladebrot mache oder ein Aprikosenmarmeladebrot, sondern die Folge von ständiger Gehirnaktivität, also einer Art unendlichem Gespräch von Nervenzellen. Diese Aktivitäten werden als Motive bezeichnet. Ohne dass es uns bewusst ist, werden im Gehirn ununterbrochen Motive abgewogen, die für oder gegen eine Handlung sprechen. Ein Motiv gewinnt und so kommt es dann zu einer Handlung. Daraus folgt für die Neurowissenschaftler: Willensfreiheit gäbe es nur, wenn es ein Handeln ohne Motiv gäbe. Das aber ist unvorstellbar. Denn der Mensch tut immer irgendetwas – sitzen, lächeln, reden zum Beispiel – und dafür hat das Gehirn ein Motiv, immer. Die Grundlage zur Annahme, dass der freie Wille eine Illusion ist, schuf das Experiment des amerikanischen Physiologen Benjamin Libet in den 1980er-Jahren. Libet bat Probanden, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes den Arm zu heben. In dem Moment, in dem sie sich entschlossen, den Arm zu heben, sollten sie einen Knopf drücken. Libet konnte Gehirnaktivität messen, die etwa eine halbe Sekunde vor dem Willensentschluss einsetzte. Daraus wurde gefolgert, dass der Willensakt nicht die Ursache, sondern eine Folge von Hirnprozessen ist: Die Testpersonen hätten damit die Entscheidung, den Arm zu heben, unbewusst bereits getroffen, ehe sie auf den Knopf drückten – es sei keine freie Willensentscheidung gewesen.

Bei der Handlung, zum Beispiel morgens aufzustehen, geht der Kampf vielleicht von folgenden Motiven aus: Was könnte passieren, wenn ich weiterschlafe? Bekomme ich Ärger im Büro, wenn ich nicht pünktlich bin? Oder habe ich Ferien und schlafe deshalb weiter? Wenn ich Hunger habe, bleibe ich wahrscheinlich nicht liegen und so weiter. Ich habe zwar das Gefühl, dass es meine freie Entscheidung ist, aufzustehen oder liegen zu bleiben. Die Hirnforschung sagt aber, dass ich aufgestanden oder liegen geblieben bin, weil sich mein ganzes Leben lang Motive aneinander gereiht haben, die dann dazu führen, dass ich im Bett bleibe oder aufstehe. Und: Die gleichen Motive führen theoretisch bei jedem Menschen zur gleichen Handlung.

Gerhard Roth, einer der führenden deutschen Hirnforscher, erklärt: "Alle verfügbare empirische Erkenntnis sagt uns, dass diese Abwägungsprozesse, so kompliziert sie auch sein mögen, stets im Rahmen genetischer Vorgaben, frühkindlicher Erfahrungen und weiterer sozialer Einflüsse stattfinden und sich nirgendwo ein Moment von Freiheit im alternativistischen Sinne, das heißt eines Andershandelnkönnens unter ansonsten identischen Bedingungen, findet. Es gibt nicht einmal ein plausibles Denkmodell, wie in diesem Prozess ein solches Moment entstehen könnte."

Allerdings halten manche Hirnforscher die Diskussion über die Freiheit des Willens für sinnlos, weil sie auf einem Missverständnis basiere. Der Münchner Neurowissenschaftler Ernst Pöppel ist einer von ihnen. Seiner Meinung nach wurde der Begriff "Wille" genauso wie "Aufmerksamkeit" oder "Wahrnehmung" erfunden, damit man über sich selber nachdenken und sich mit anderen darüber unterhalten kann. "Jetzt nach dem Sitz der erfundenen Begriffe im Gehirn zu suchen, ist der falsche Ansatz", erklärt er. Auch wenn man die neuen Erkenntnisse der Hirnforschung anerkennt und sich so an der Diskussion beteiligt: Im Alltag ändert sich nichts. Psychologisch gesehen ist das Gefühl, einen freien Willen zu haben, dringend notwendig, weil sonst niemand handeln könnte. Würde ich mich nicht frei fühlen zu entscheiden, wie ich einen Abend verbringe, ob im Kino oder zu Hause, wäre ich unfähig zu handeln. "Im Alltag ist es egal, ob ich in den Film gehe, weil mich eine gute Werbekampagne dazu gebracht hat. Ketten, die ich nicht spüre, sind keine Ketten", sagt Gerhard Roth. Die Alltagsvorstellung von Willensfreiheit ist und bleibt: Ich kann tun, was ich will. Unfrei fühle ich mich nur, wenn ich zu etwas gezwungen werde, zum Beispiel jemand droht, mich zu erschießen, wenn ich nicht aufstehe. Das Gefühl der Unfreiheit entsteht in dem Fall von außen. Bin ich zu betrunken, um aufzustehen, entsteht das Gefühl der Unfreiheit von innen.

Aber was bedeutet die Aussage: "Der freie Wille ist eine Illusion" bei der Frage nach Schuld? Das geltende Strafrecht geht davon aus, dass Schuld einen Täter voraussetzt, der anders hätte handeln können, wenn er nur gewollt hätte. Gleichzeitig kann nach geltendem Strafrecht niemand für etwas verantwortlich sein, was er nicht beeinflussen konnte. Dazu Gerhard Roth: "Wenn ein Täter vor Gericht steht und wirklich glaubhaft machen kann, dass er aufgrund genetischer, frühkindlich erworbener und späterer sozialer oder entwicklungsbedingter Faktoren so ist, wie er ist, und deshalb nicht anders handeln konnte, dann muss er bereits nach heutigem Strafrecht freigesprochen oder zumindest als nicht schuldfähig angesehen werden. Außer in Fällen schwerer hirnorganischer oder psychischer Störungen ist eine solche Beweisführung heute eine Fiktion, weil ein solcher Beweis nicht zweifelsfrei geführt werden kann, aber denkbar ist sie durchaus." Die Hirnforscher bemühen sich zusammen mit Strafrechtlern um eine neue Definition des Schuldbegriffes. Dass eine Gesellschaft vor Tätern geschützt werden muss, stellen sie jedoch nicht in Frage.

Die neuen Erkenntnisse berühren auch das Privatleben. Wenn ich heute erfahre, dass mein Partner mich betrügt, kann ich zwar sagen: Er kann ja nichts dafür, ich bleibe weiter mit ihm zusammen, schließlich haben unzählige Motive ihn so handeln lassen, er hatte gar nicht die Freiheit, sich dagegen zu entscheiden. Ich kann aber auch sagen: Wenn im Gehirn meines Partners eine Reihe von neuronalen Vorgängen ablaufen, die ihn so handeln lassen, dann entscheide ich mich gegen diesen Partner. Oder ich kann ihn bitten, an sich zu arbeiten, damit er nicht mehr in die Lage kommt, mich zu betrügen. Denn wie Gerhard Roth sagt: "Menschen können sich sehr wohl ändern, auch wenn der freie Wille im absoluten Sinne eine Illusion ist. Jungen Menschen fällt es allerdings leichter sich zu ändern als alten." Menschen können sich aber in ihrem Verhalten nur in dem Maße ändern, wie ihr emotionales Erfahrungsgedächtnis dies zulässt. Gehirnvorgänge kann man nicht per bloßen Willensentschluss beeinflussen. Der Wille ist ein Gehirnzustand, der andere Gehirnzustände ändert. Das Gehirn diszipliniert sich dabei selbst – wir erleben dies als willentlich-bewusst angestrebte Verhaltensänderung. Nun könnte man vermuten, dass die eigene Zukunft vorhersagbar wird, wenn alle Willensentscheidungen tatsächlich vorhersehbar werden, wüsste man genügend über die Motivlage im Gehirn. Diese Vorstellung entkräftet Gerhard Roth mit einem Satz des Mathematikers Pierre-Simon Laplace: "Wenn der Weltgeist von der Welt alles wüsste, alles Vergangene und alles Gegenwärtige, dann könnte er die Zukunft voraussagen. Dies ist aber aus heutiger Sicht unmöglich: Wenn der Weltgeist nämlich Teil der Welt ist, wird seine Überlegung immer Einfluss auf die Welt nehmen, deren Teil er ist. Und wenn er nicht Teil der Welt ist, kann er auch keine Voraussage machen. Daraus folgt, dass eine umfassende Voraussage der Zukunft logisch nicht möglich ist; wir können nur Dinge annähernd gut voraussagen, die mit uns möglichst wenig zu tun haben. Am wenigsten kann ich mein eigenes Verhalten voraussagen, und zwar auch dann nicht, wenn es vollständig determiniert ist."

Der Wille ist frei

Morgens in der Küche. Im Kühlschrank stehen zwei Marmeladen – Himbeere und Aprikose. Vor dem Kühlschrank stehe ich, habe Hunger und nehme die Himbeermarmelade, weil ich heute ein Brot mit Himbeermarmelade essen will. Dazu habe ich mich frei entschieden. Denn der Wille ist frei.

Davon geht ein Teil der Philosophen aus. Und er bleibt dabei, auch wenn Neurobiologen sagen, dass die Willensfreiheit das Ergebnis festgelegter Aktivitäten im Gehirn ist. Einer, der sich in die aktuelle Debatte zum freien Willen einmischt, ist Peter Bieri, Professor für Philosophie in Berlin und Autor des Buches Das Handwerk der Freiheit. Philosophen und Neurobiologen unterscheiden sich seiner Ansicht nach darin, wie sie mit dem Wort "Willensfreiheit" umgehen. "Es gab in der Philosophie den Gedanken, dass der Wille nur frei ist, wenn er keine Vorgeschichte hat. Doch das ist falsch. Der Wille ist dann frei, wenn er auf die richtige Weise von einer Person kontrolliert wird." Die Entdeckungen der Neurobiologie erkennt Bieri dennoch an. "Es leuchtet ein, dass nichts in der Psyche eines Menschen passiert – kein Glücksgefühl, keine Angst, keine Freude und eben auch keine Willensentscheidung –, ohne dass etwas im Gehirn geschieht." Was ist dann der Wille? Der Wille ist derjenige unter unseren vielen Wünschen, der sich durchsetzt und in einer Handlung mündet. Und wo ist der Wille? Nicht an einer bestimmten Stelle im Menschen lokalisierbar, auch nicht im Gehirn. Bieri sagt: "Der Wille ist nicht getrennt von der Lebensgeschichte oder der Situation, sondern die Freiheit des Willens besteht in der richtigen Bestimmung des Willens durch kontrollierendes Überlegen." Wenn jemand nach dem Abitur über die Berufswahl und die eigenen Fähigkeiten nachdenkt, ist er am Ende vielleicht überzeugt, Anwalt werden zu wollen. Die Entscheidung wurde dann aus freiem Willen getroffen.

Nach Bieri lautet die Formel: Die Freiheit des Willens ist so groß wie die Selbsterkenntnis und die Selbstkontrolle. Je besser wir über uns Bescheid wissen – wer wir sind, wie wir denken, was wir möchten –, desto besser wird es uns gelingen, den Willen unter Kontrolle zu bringen, ihn zu bewerten und zu verstehen. All das kann man üben. So gesehen ist Willensfreiheit das Resultat von Arbeit.

Die Freiheit des Willens setzt sich zusammen aus Erinnerungen, Emotionen, Überzeugungen und Vorstellungen. Es ist auch dann eine freie Willensentscheidung, wenn jemand Anwalt werden möchte, weil seine Eltern es wünschen oder weil er denkt, er könnte sich als Anwalt am ehesten drei Autos und ein Haus kaufen – solange der Wille kontrolliert ist. Zur Kontrolle des Willens kommen zwei weitere wichtige Punkte, die einen Willen erst zu einem freien Willen werden lassen: Er muss von demjenigen, der ihn hat, gutgeheißen werden und der Mensch muss seinen Willen verstehen. Das Gegenteil wäre der Wille eines Süchtigen, der weiter raucht, obwohl er weiß, dass ihm Rauchen schadet; oder der neurotische Wille, immer die gleiche Art von Partner zu wählen, obwohl sich in der Vergangenheit heraus- gestellt hat, dass es jedes Mal zu einer schwierigen Trennung kommt. Aber einem unfreien Willen ist man nicht hilflos ausgeliefert. "Freud hat gesagt: Wenn man durch eine Therapie eine Neurose behebt, dann gibt man dem Betroffenen die Freiheit zurück", erklärt Bieri. Abstrakte Intelligenz, wie etwa mathematische Begabung, hilft bei der Suche nach dem freien Willen nicht. Viel wichtiger ist die Beobachtung des eigenen Verhaltens und des Fühlens. Und eine spezielle Form von Bildung: Ein gebildeter Mensch ist einer, der nicht glaubt, dass seine Art zu leben die einzig richtige und mögliche ist. Er besitzt stattdessen die Fähigkeit, sich ganz verschiedene Lebensweisen vorstellen zu können. Deshalb ist der gebildete Mensch einer, der weiß, was in der Welt und im menschlichen Leben alles vorkommen kann. Auf Reisen zum Beispiel kann man solche Erfahrungen machen. Auch Lesen fördert das Einfühlungsvermögen in andere Personen: Wer sich mit Romanfiguren identifizieren kann, kann so seine Selbstwahrnehmung verbessern. In dem Maß, in dem der Mensch einen so genannten Horizont hat, kann er sich fragen: Was will ich eigentlich? Je mehr er sich das fragt, desto mehr Möglichkeiten hat er, sich um den eigenen Willen zu kümmern und so Freiheit zu erlangen.

Der Zufall bestimmt, welches Los jemand in der genetischen Lotterie gezogen hat, mit welchen Begabungen er auf die Welt kommt: emotional wie intellektuell. Je fähiger jemand ist, auf sich selber zu achten, desto größer wird die Chance sein, einen freien Willen zu entwickeln. Bringt man einem Kind bei, sich in andere hineinzuversetzen, indem man ihm vermittelt, wie unterschiedlich es sich anfühlt, angelächelt zu werden oder angespuckt, dann wird das Kind später auch leichter einschätzen können, wie sein Handeln auf andere wirkt. Diese Fähigkeit wiederum ermöglicht eine genauere Eigenbeobachtung und in der Folge wieder einen freieren Willen.

Auch die Beobachtungen anderer helfen: Zwar haben die nicht immer Recht mit der Deutung unserer Person, aber unsere Eigenwahrnehmung kann uns genauso täuschen. Die griechischen Philosophen kannten den Begriff "Willensfreiheit" gar nicht, sie hatten nur eine Idee von Handlungsfreiheit. Demnach galt: Jemand ist in seinem Handeln frei, wenn er tun kann, was er will. Die Handlung wiederum ist dann frei, wenn sie dem eigenen Willen gehorcht. Der Wille darf allerdings nicht mit einem Wunsch verwechselt werden. Wenn ein Wunsch zum Willen werden soll, dann gilt in der Regel: Man lässt einen Wunsch nur dann zum Willen werden, wenn man glaubt, den Wunsch realisieren zu können. Es ist der Wille, der einen dann handeln lässt. Ein Beispiel: Wenn ich beschließe, morgen in der Mailänder Scala eine Arie zu singen, ist das erst mal ein Wunsch. Wenn ich weder Sänger bin noch ein Engagement an der Scala habe, bleibt es ein Wunsch. Ließe ich meinen unrealistischen Wunsch zu meinem Willen werden und würde danach handeln – also nach Mailand fahren und mich auf die Bühne stellen –, würde man mich als verrückt bezeichnen.

Der Mensch fühlt sich glücklich, wenn er tut, was er will. Es gibt aber auch Zustände des Glücklichseins, in denen man nicht mehr Herr des eigenen Willens ist. Der Moment des Verliebtseins ist ein harmloses Beispiel. Auch Sektenanhänger geben ihren Willen ab und erfahren so vorüber-gehend etwas Entlastendes. Sie sind zwar glücklich, haben aber die Kontrollinstanz ihrer Willensfreiheit an einen Guru delegiert. Bieri sagt: "Wir Menschen sind nicht so gemacht, dass es uns gut geht, wenn wir längerfristig die Regie über unseren Willen abgeben. Das bewegt zwar Massen, wie man bei den Massenpsychosen im Faschismus oder im Stalinismus sehen kann: Die Menschen strahlen, tanzen und sind euphorisch, aber sie sind auf künstliche Weise high. Das ist nur eine besondere Variante des Sich- glücklich-Fühlens und sicher nicht die, auf die es lang-fristig ankommt." Die Möglichkeit, sich einen freien Willen zu erarbeiten, gibt es in jedem Alter. Denn die Lernfähigkeit und damit die Gedächtnisleistung nimmt mit den Jahren nicht ab, es kommt nur darauf an, wie man sie im Laufe seines Lebens trainiert. "Man sollte immer davon ausgehen, dass alle Leute lernen können. Und eine Politik, die das nicht beachtet, ist eine falsche Politik." Eine im politischen Sinne freie Gesellschaft ist nach Bieri eine, die für jeden Menschen die Chance so groß wie möglich macht, in seinem Willen frei zu werden.

Folgt man Bieri, wäre eine Welt, in der alle Menschen einen freien Willen haben, eine friedliche Welt – weil sich die Menschen gut in die Lage anderer versetzen könnten:"Es gäbe Frieden. Denn jemand, der sich vorstellen kann, wie es ist, angegriffen zu werden, der greift nicht an."