Herr Kagelmann, die Deutschen reisen wie die Weltmeister. Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn diese ständig unterwegs ist?

Reise-Weltmeister! Dieses Schlagwort geht mir auf die Nerven. Es kommt doch immer auf die statistischen Kategorien an: Werden Köpfe gezählt, Kilometer oder Dollars? Man kann auch die Österreicher zu Reise-Weltmeistern machen. Immerhin: Dieses ständige Gerede vom Reise-Weltmeister Deutschland macht klar, wie stark sich dieses Land über das Reisen definiert.

Haben die Deutschen Langeweile oder Fernweh? Oder ist das gar ein Zeichen von Dekadenz?

Schon wieder große Worte! Erst einmal ist Deutschland ein ziemlich reiches Land. Hier können sich relativ viele Leute das Reisen leisten, so wie sich auch relativ viele Leute eine gute Ernährung leisten können.

Die Deutschen verreisen also schlicht deshalb so viel, weil sie es können?

Das kann man so sagen: Ich reise, also bin ich. Reisen und darüber reden können, das bedeutet Zugehörigkeit und hat auch in weiterer Hinsicht etwas Demonstratives: Durch die jeweilige Art des Reisens übt man sich in sozialer Abgrenzung. Das Spektrum reicht vom banalen Konsumprodukt des Pauschaltourismus bis hin zu sogenannten Bildungsreisen und Luxusprodukten. Man denke etwa an einen exklusiven Cruise vor Feuerland mit nur acht Gästen an Bord, bei dem man sich die Pinguine zum Fotografieren reservieren lässt.

Bleiben wir mal beim Normaltouristen – was ist denn eher dessen Motiv: die Sehnsucht nach der Welt oder die Flucht vor dem Alltag, also Eskapismus?

Weltsehnsucht – das ist mir zu wolkig. Eskapismus, das hat schon eher Sinn. Und da zitiere ich gern Hans Magnus Enzensberger, der schon 1958 in seinem Essay „Eine Theorie des Tourismus“ vom industriellen, genormten Produkt sprach. Und der ausführte, dass es hier um das Sozialprestige, aber auch um die Fluchtfunktion geht: nämlich der Entfremdung zu entkommen, den krank machenden, frustrierenden Arbeitsbedingungen. Enzensberger beschrieb einen Fluchtversuch, der letztlich vergeblich bleiben muss.

Klingt mehr nach Frust als nach Lust.

Touristen lassen sich nicht nur als Opfer einer Selbsttäuschung betrachten. Sie werden aktiv, um sich Genuss, andere Eindrücke, ja Bereicherung zu verschaffen. Es kommen die Menschen ja durchaus erholt, ausgeglichen, lebendig aus ihrem Urlaub zurück.

Moderne Touristen-Resorts garantieren einen reibungslosen Urlaubsalltag ohne Kontakt zu einheimischer Bevölkerung und Kultur. Verschwindet da nicht der Sinn, durch das Verreisen Fremdes zu entdecken?

Über solche abgeschotteten Orte, die sich über die Länge der Wasserrutschen und der Buffets definieren, kann man lange nachdenken. Neben dem Schnäppchenpreis mag für manche gerade die Abwesenheit von Überraschungen der Reiz sein. 

Kann es eigentlich zur Völkerverständigung, gar zum Weltfrieden beitragen, wenn viele Millionen Menschen sich gegenseitig besuchen?

Das kann es schon. Eine gewisse Offenheit ist schön, der Blick über den Tellerrand lohnt ja meistens. Doch zu viel erwarten sollte man in Sachen Völkerverständigung nicht. Jede nette Begegnung oder jede menschliche Enttäuschung gleich zu verallgemeinern hilft auch nicht unbedingt weiter. Und wer seine Vorurteile pflegt, der wird sich davon auch auf Reisen kaum abhalten lassen. 

Warum sind viele Touristen so leicht als solche erkennbar?

Sie meinen Shorts, Blümchenhemden, Sandalen? Jenseits ästhetischer Werturteile lässt sich sagen, dass der Tourist in eine andere Rolle schlüpft, er bewegt sich sowohl außerhalb seines Alltags als auch außerhalb des Alltags der umgebenden Bevölkerung. Dieser Rolle entspricht in gewisser Weise auch die Kleidung, die dann meist Freizeit- und Funktionskleidung ist. Auch Gruppenzwänge spielen eine Rolle.

Und warum wollen manche Leute gerade nicht als Touristen erkannt werden?

Früher mag es Leute gegeben haben, die glaubten, dass sie ohne die Touristen-Uniform nicht so leicht von windigen Geschäftemachern betrogen werden können. Heute, so denke ich, geht es eher um Distinktion. Manche Reisende wollen sich einfach von der Masse der Touristen abgrenzen. Und bloß nicht der Klischee-Teutone sein.

Woher kommt der Affekt, Touristen, die uns in unserer Heimat besuchen, abzulehnen? So wie es zum Beispiel die sogenannten Touristenhasser in Berlin tun, die sich von einer Rollkoffer-Invasion überrannt fühlen.

Das mit den Touristenhassern und der Kieznostalgie in Berlin scheint mir auch ein Phänomen zu sein, in das die Medien verliebt sind. Ich sage es mal so: Davon hat man hier in Bayern noch nie gehört! Was nicht heißt, dass es nicht immer wieder zu Aufwallungen dieser speziellen Variante der Fremden- angst kommen kann. Gerade, wenn noch besonders solvente Fremde als Touristen auftauchen. Da fallen mir aber auch Vokabeln wie Revierverteidigung und heile Welt ein.

Mal global betrachtet: Ist der weltweite Tourismus eher eine Erfolgsgeschichte oder eine Katastrophe?

Unter ökonomischem Blickwinkel ist die Entwicklung dieser Industrie eine enorme Erfolgsgeschichte. Ganz anders sieht es aus, wenn man auf die Verteilung des so erwirtschafteten Wohlstands sowie die ökologischen Folgewirkungen schaut. Da gibt es katastrophale Entwicklungen. Zwar verbreitet sich seit Längerem durchaus die Einsicht, dass es einen gerechteren und ökologischeren Tourismus bräuchte – doch von der Einsicht bis zur Verhaltensänderung ist es ein weiter Weg.