Irgendwann hatte Arne Grahm das Gefühl, er sei in eine Agentengeschichte verwickelt. Wenn der 47-Jährige über seine Kindheit und Jugend spricht, geht es um die CIA und die Stasi, um das geteilte Berlin und den Kalten Krieg, die Ostpolitik der CDU und SPD, die KSZE-Schlussakte von Helsinki und den Mauerfall. Eine ganze Menge Kräfte zerrten an seinem Leben. Arne Grahm, geboren 1966 in Ost-Berlin, ist einer der wenigen dokumentierten Fälle einer politischen Zwangsadoption in der DDR.

"Das ist eine schmutzige Geschichte", sagt er, zieht an seiner Zigarette und schaut von seinem Balkon in Berlin-Kreuzberg in die Dämmerung.

Von all dem ahnt Arne Grahm, heute Kommunikationswirt und freier Texter, lange Jahre nichts. Er wächst auf in Berlin-Treptow. In einer Neubausiedlung aus den 50er Jahren, dreistöckige Häuser, viel Grün dazwischen, die Mutter ist Lehrerin, der Vater Herstellungsleiter bei einem Verlag. Die Mauer ist gleich um die Ecke. Hin und wieder werfen Schulfreunde einen Tennisball rüber. Zurück kommt nie etwas. Westfernsehen ist zu Hause tabu. Unter der Bettdecke hört er heimlich Westradio. Es wirkt wie eine normale Kindheit unter den Vorzeichen des real existierenden Sozialismus.

Und doch ist alles anders. Auf der anderen Seite der Mauer, im Westen, kämpft eine junge Frau einen verzweifelten Kampf. Sie stellt Anträge an Jugendämter, engagiert Anwälte, ringt mit Bundesbehörden, schreibt an den "Spiegel" und das ZDF, an Helmut Kohl und Jimmy Carter, sie stürmt mit Flugblättern das Bundeshaus in Bonn, organisiert Hungerstreiks und Mahnwachen, zum Beispiel 1975 in Helsinki während einer Konferenz, bei der die teilnehmenden Staaten unter anderem über Menschenrechtsfragen diskutieren. Dazu könnte sie einiges sagen.

Arne Grahm kommt als Aristoteles Alexander Demitrios Püschel zur Welt. Sein Vater ist ein griechischer Austauschstudent in West-Berlin, der im Ostteil der Stadt eine junge Frau kennenlernt, Gabriele Püschel. Bald darauf wird Aristoteles geboren – und der Vater verhaftet. Der Vorwurf: Er spioniere im Autrag der CIA. Für sieben Jahre muss er in Ost-Berlin ins Gefängnis. Gabriele Püschel fürchtet auch für sich politische Konsequenzen und flieht aus der DDR. Ihren Sohn gibt sie in die Obhut der Großeltern, in der Hoffnung, ihn durch eine sogenannte Familienzusammenführung in den Westen holen zu können. Seit 1963, kurz nach dem Mauerbau, wurde das vielfach praktiziert. Nicht aber bei Gabriele Püschel.

Als sie 1968 in West-Berlin ankommt, wendet sie sich gleich wegen der Familienzusammenführung an das Jugendamt. Doch sie wird immer wieder vertröstet. In der Zwischenzeit ist ihr Sohn bei ihrer Freundin Gisela untergebracht. Die Großeltern – als Rentner haben sie Reisefreiheit – kehren nach einem Besuch in West-Berlin nicht mehr zurück in die DDR.

Polizei und Jugendhilfe holen Aristoteles schließlich bei dieser Freundin ab. Nach einem kurzen Aufenthalt im Kinderheim kommt er zu Pflegeeltern, dem Ehepaar Grahm. Ihnen sagt man, dass es sich um das zurückgelassene Kind einer "Republikflüchtigen" handelt. Gabriele Püschel, die mittlerweile im Westen geheiratet hat und jetzt Yonan heißt, weiß nun nicht mehr, wo ihr Kind ist. Sie bekommt 1971 einen Brief vom Jugendamt Neukölln, dass sie den Ost-Behörden die Einwilligung zum Entzug des Sorgerechts geben soll. Empört lehnt sie ab. Schließlich wird ihr Sohn gegen ihren Willen zur Adoption freigegeben.

Wie viele politisch motivierte Zwangsadoptionen es gab, ist bis heute unklar. Bekannt ist hingegen, dass die DDR-Behörden gezielt davon Gebrauch machten, um ideologisch unzuverlässige Eltern zu brechen.

Katrin Behr sammelt solche Fälle, über 1.400 hat sie mit ihrer Beratungsstelle dokumentiert. Sie ist selbst Betroffene. Als sie vier Jahre alt war, wurde ihre Mutter unter Verweis auf Paragraf 249 StGB verhaftet, einem extrem dehnbaren Passus, im Volksmund "Assifalle" genannt. Wer die öffentliche Ordnung gefährdete, und sei es nur mit einer kritischen Haltung, der hatte mit Konsequenzen zu rechnen. Vor allem galten solche Personen aus Sicht der Behörden als außerstande, ihre Kinder "zu aktiven Erbauern des Sozialismus" zu erziehen. 130.000 Verurteilungen gab es nach dem sogenannten Asozialenparagrafen. Was wurde aus diesen Kindern?

Als Teenager fährt Arne Grahm oft die sieben S-Bahn-Stationen vom Baumschulenweg zum Alexanderplatz. Da treffen sich in Ost-Berlin alle, die anders als die anderen sind. Punks und Skater, Breakdancer und Popper. Mal mehr, mal weniger drangsaliert von den Volkspolizisten und IMs. Mittendrin Arne Grahm, ein unangepasster Jugendlicher, der illegale Konzerte organisiert, sowjetische Uniformen nach West-Berlin vertickt und an der "piefigen Diktatur des Durchschnitts" leidet, als die er die DDR empfindet. "Leute mit komischen Frisuren oder Pazifisten wurden behandelt wie äußere Feinde", erzählt er. Er will raus. Dass er ein Adoptivkind ist, weiß er da schon.

Am Anfang ist da die Erinnerung an Tante Gisela, aber es gibt keine Tante Gisela in der neuen Verwandtschaft, irgendwann nennt ihn dann ein Junge auf dem Schulhof "Heimkind", er muss die Geschichte aus der Westpresse erfahren haben, die ausführlich über den Fall berichtet, und als Arne Grahm schließlich einen Personalausweis beantragt, stehen da diese drei griechischen Vornamen auf seiner Geburtsurkunde. Die Eltern erzählen ihm, dass ihn seine Mutter verlassen habe, als er ein Kleinkind war.

Mehr weiß er nicht über die Umstände seiner Adoption, als er beginnt, seine Flucht aus der DDR zu planen. Auch nicht, dass seine leibliche Mutter in West-Berlin wohnt und ihn mit allen Mitteln zu sich holen will. Davon erzählt ihm erst die Schwester seines Adoptivvaters, die selbst in West-Berlin wohnt und ihm bei der Flucht helfen soll. Von ihr erfährt Arne die ganze Geschichte – und nutzt sie schließlich als Druckmittel gegen den Staat.

Er stellt einen Ausreiseantrag – und droht, die Geschichte bei Kirchen- und Umweltverbänden publik zu machen. Damit trifft er einen Nerv. Eines Nachts stehen zwei Mitarbeiter des Innenministeriums vor seiner Tür und versprechen, dass er bald raus könne. Er solle aber auf keinen Fall Aufsehen erregen. Nach nur einem halben Jahr reist er 1987 legal nach West-Berlin aus. Sogar seine Freundin kann er mitnehmen.

Hier könnte jetzt eine heile Familiengeschichte anfangen. Tut sie aber nicht. Arne Grahm zieht auf ihren Wunsch zu seiner leiblichen Mutter und ihrem zweiten Sohn David, der mit 12 Jahren schon in der Philharmonie auftritt und auf dem Weg zu einer großen Geiger-Karriere ist. Nach nur zehn Tagen zieht er wieder aus. "Ich hatte nicht das Gefühl, als Person willkommen zu sein, sondern als Rechtfertigung." Mutter und Sohn bleiben sich fremd. Ihnen fehlt ein gemeinsamer Alltag. Und das, was sie verbindet, die Geschichte der Zwangsadoption, entwickelt sich immer mehr zu etwas Trennendem.

Er beginnt zu studieren, was ihm in der DDR verwehrt war, und hält Kontakt zu seinen Adoptiveltern. Als am 9.11.1989 die Mauer fällt, fährt er zu ihnen – seine leibliche Mutter sei davon wenig begeistert gewesen, sagt Arne heute. Für sie seien sie Repräsentanten jenes Systems gewesen, das ihr das Kind wegnahm. Und ihr Sohn der lebende Beweis für das Unrecht, gegen das sie all die Jahre gekämpft hatte.

Wenig später macht ein Aktenfund Furore: Ein Bezirksstadtrat kann nachweisen, dass es sich bei Zwangsadoptionen um eine politisch motivierte Praxis handelte. Darunter der Fall Grahm. Plötzlich reißt sich die Weltpresse um die Geschichte. Washington Post, CNN, Oprah Winfrey, BBC, Spiegel – überall taucht der Fall auf, illustriert er doch ähnlich prägnant wie die Mauerschützen, wie grausam die DDR-Diktatur gegen die eigenen Bürger vorgehen konnte.

Wieder zerren eine ganze Menge Kräfte an Arne Grahm. Er bekommt allmählich das Gefühl, für ein bestimmtes Geschichtsbild instrumentalisiert zu werden. "Es gibt in unserer Gesellschaft offenbar einen irrsinnigen Bedarf, sich an wenigen moralisierenden Dingen festzuhalten; und das, obwohl gerade die Politik überwiegend amoralisch handelt. Eine Gesellschaft braucht Moralkeulen – gegen Links bietet sich die Diktatur in der DDR an." Selbst seine leibliche Mutter sagt der Presse, dass das DDR-System ihren Sohn verdorben hätte. Arne Grahm sitzt zwischen den Stühlen: "Ich will nichts relativieren, nichts beschwichtigen, aber ich weigere mich, die mir zugedachte Opferrolle anzunehmen."

"Meine Mutter bekam Briefe von Helmut Kohl, in denen steht, er werde sich persönlich für den Fall einsetzen, wenn er an die Macht kommt", sagt Arne Grahm. Im Einigungsvertrag, der 1990 geschlossen wird, passiert hingegen etwas anderes: Die Zwangsadoptionen werden wie viele andere Rechtsbeugungen auch stillschweigend legalisiert. So besteht kaum eine Chance, Geschichten wie die von Arne Grahm umfassend aufzuklären. Für Eltern, denen ihre Kinder entzogen wurden, gilt eine Akten-Sperrfrist von 50 Jahren. Kinder haben nur ein Recht auf "Teileinsicht".

Für ihn selbst hätte es schlimmer kommen können, sagt Arne Grahm. Er leidet an keinen Traumata, hat einen interessanten Job, lebt in einer langjährigen Beziehung, hat eine Tochter. Wenn sie die Großeltern besuchen, fahren sie zu den Adoptiveltern. Mit seinem Halbbruder hat er Kontakt, mit seiner leiblichen Mutter nicht.

Es ist ihm gerade lieber so.