Auf die Frage „Was ist russischer Punk?“ hört man im Westen seit einigen Jahren meist die gleiche schlichte Antwort: Pussy Riot. Das feministische Kollektiv mit den grellbunten Sturmhauben aus eigener Strickproduktion wird häufig als Punkrock-Band bezeichnet. Tatsächlich umfasst ihr Repertoire lediglich sieben Songs. Das Ensemble erinnert eher an den Politaktionismus der Oben-ohne-Kämpferinnen von FEMEN, zudem knüpft es an die postsowjetische Aktionskunst eines Oleg Kulik oder des russischen Ensembles „Woina“ (Krieg) an, das mit Gruppensex-Orgien Aufsehen erregte.

„Pussy Riot machen durchkalkulierte globale Politkunst im Zeitalter von Twitter und Facebook“, sagt der Journalist Uli Hufen, ein Kenner der russischen Musikszene. Er ist der Ansicht, dass Pussy Riot ein durch und durch von westlichen Ideen inspiriertes Kunstkollektiv sei. „Die treten mit Madonna auf. Punk ist eine Ästhetik, die sie für ihre Aktionen benutzen, aber nur als Zitat. Ihre Idee von Punk-Aktionismus ist eine Mischung aus mittelgut verdauten linken Theorie-Batzen von Foucault oder aus der Schule des Feminismus. Inspiriert ist das Ganze vor allem vom Riot-Grrrl-Punk aus den USA.“

Im Westen waren Pussy Riot also erfolgreich, weil sie in ihren Aktionen eine Sprache verwendeten, die der Westen verstand. Auch kann die Verwurzelung der Gruppe im russischen Punk bestritten werden. Den gibt es nämlich schon fast so lange wie in Westeuropa, wobei er ganz eigene Ausformungen des Nonkonformismus hervorgebracht hat.

Ende der 70er-Jahre: Unter Staatschef Leonid Breschnew stagniert die Sowjetunion. Das Land wird von greisen Herren regiert, die nach außen einen Krieg gegen Afghanistan führen und nach innen jeglichem Freigeist Daumenschrauben ansetzen. Rockmusik ist verboten. Doch obwohl der Nachrichtenfluss aus dem Westen spärlich ist, gelangt die Musik von Sex Pistols und Co. auch hinter den Eisernen Vorhang.

Mit der No-Future-Haltung der westlichen Jugend – betont durch abgewetzte Klamotten, schrille Frisuren, einen wütenden Gesang und dilettantisch-energetisch gespielte Riffs – können sich auch sowjetische Jugendliche identifizieren. In Leningrad tingelt der exzentrische Andrej Panow, der sich „Swin“ (Schwein) nennt, mit seiner Anarcho-Kombo „Awtomatitscheskie Udowletworiteli“ (Automatische Zufriedensteller) durch die Wohnungen und Privatclubs der Stadt, uriniert bei seinen Auftritten oder schmeißt Fäkalien ins Publikum. „Mir ist egal. Mir ist egal“, singt er. „Ich bin ein Mensch oder Scheiße. Ich bin vor allem ein Stück Scheiße.“

Zugleich bilden sich im Untergrund Bands wie DDT, Zoopark oder Nautilus Pompilius, die sich gegen das Sowjetsystem positionieren. Ab Mitte der 80er-Jahre – als Michail Gorbatschow mit Perestroika und Glasnost einen liberalen Wandel beginnt – profitieren sie von der neuen Freiheit und erobern mit ihrem Dissidenten-Rock die Bühnen der Sowjetunion.

In dieser Welle der jugendlichen Rebellion gründen sich auch Punk-Bands wie Sektor Gaza, Nogu Svelo oder Kino, die mit rauer Wildheit, experimenteller Clownerie, avantgardistischer Theatralik und tanzbarer Post-Punk-Depression dem System zu Leibe rücken. Unter den Jugendlichen, die nach neuen Formen der Selbstverwirklichung abseits der sozialistischen Norm suchen, finden sie ein dankbares Publikum.

Die wohl prägendste, umstrittenste und dabei russischste aller Punk-Bands war Grazhdanskaya Oborona (Zivile Verteidigung, kurz GrOb, was Sarg bedeutet), gegründet 1982 unter dem Namen Posev in Omsk. Es war ein Soundtrack der totalen Zerstörung und Verstörung, der einem da aus Sibirien in die Seele wehte. In den Songs war der musikalische Einfluss des westlichen Punks kaum noch zu spüren. Stattdessen hörte man in den Songs des charismatischen Frontmanns Jegor Letow die ungezügelte Rauheit, die tiefschwarze Melancholie und den hemmungslosen Zorn einer verlorenen Generation, verpackt in einer eigenartigen Poesie, die sich an sowjetischen Rebellendichtern wie Wladimir Majakowski orientierte. Getragen wurden die Songs von einem krachenden Noise-Teppich aus drückenden Drumbeats, schrammelnden Gitarren und deutlichen Folklore-Einflüssen.

„Ich werde immer dagegen sein“, sang Letow. Er hielt Wort. Während westlicher Punk häufig sehr klar links verortet ist, gefällt sich der von Letow als kultivierte Provokation mit politisch diffuser Attitüde. Und als der frühere Punk und Subkultur-Schriftsteller Eduard Limonow 1994 die Nationalbolschewistische Partei gründete, war Letow mit von der Partie.

Auf den Zusammenbruch der UdSSR 1991 folgte eine Identitätskrise. Der große Feind, die Kommunisten, waren besiegt, die Linke diskreditiert. Neue Bands der nächsten Punk-Generation (wie Distemper, Spitfire, Naive, Purgen oder Tarakany) gaben sich zwar weiterhin gesellschaftskritisch, orientierten sich aber auch an den Marktregeln des Musikbusiness – Antifa-Bands wie Moscow Death Brigade, die sich sehr eindeutig der politischen Subkultur verschreiben, sind die Ausnahme.

1997 trat Leningrad auf den Plan. Mit seinem archaischen Anarchismus, in dem es häufig um Schlägereien, Alkohol und Frauen geht, wurde das Ska-Punk-Ensemble um Sänger Sergej Schnurow zur Skandalband, deren Konzerte von Behörden immer wieder verboten wurden. Schnurow gießt seine Kritik in ironische Mitgröl-Songs, die fast ausschließlich aus russischen Schimpfwörtern bestehen. In „Moskau“ träumt er etwa davon, dass die russische Hauptstadt abbrennt, zusammen mit Präsident Wladimir Putin, Premierminister Dmitri Medwedew, aber auch dem Oppositionellen Alexei Nawalny – und Pussy Riot.

Auch Schnurow hält die Aktionskünstlerinnen nicht für Punk. In einem Interview mit Colta.ru sagte er: „Die haben sich nur als Punk-Band deklariert, damit man sie irgendwie einordnen kann. Pussy Riot ist eine sehr, sehr starke künstlerische Geste. Ob sie gut oder böse ist, weiß ich nicht. Und was für eine Wahrheit sie haben – weiß ich auch nicht.“

Andere, wie der legendäre Musikkritiker Artem Troitski, solidarisierten sich dagegen mit den Frauen und betonten die Schockwirkung, die von den Pussy-Riot-Aktionen im Kreml und unter den Nationalen in Russland ausgelöst wurde. Pussy Riot sind mit ihrer Systemkritik außerdem nicht alleine. Rockmusiker wie Juri Schewtschuk oder Andrej Makarewitsch positionieren sich öffentlich gegen Putin.

So hat der Nonkonformismus auch im heutigen Russland viele Gesichter, und Punk ist nur eines davon. Doch ist er sicher weniger subversiv und kreativ als zur Zeit der Sowjetunion. Damals hatte ein ausgelaugter, ermüdeter Staat der Jugend kaum noch etwas zu bieten. Das sieht heute anders aus: Putins orthodoxer Nationalismus ist für viele Jugendliche zur ideologischen Heimat geworden.

Ingo Petz, Jahrgang 1973, hat in Russland studiert und schreibt als freier Journalist vor allem über Osteuropa. Der russische Punk trat vor über 20 Jahren in sein Leben, als ihm ein russischer Freund nach einer durchzechten Nacht den Song „Vsjo idjot po planu“ (Alles verläuft nach Plan) von Grazhdanskaya Oborona vorspielte.