Die Stadt ist klein und keine Schönheit. Aber sie war lange Jahre sehr reich. Geesthacht, an der Elbe bei Hamburg gelegen, verdankte seinen Wohlstand den Steuereinnahmen durch das Atomkraftwerk Krümmel. Das AKW, 1984 ans Netz gegangen und inzwischen stillgelegt, brachte dem 30.000-Einwohner-Ort allerdings auch viele negative Schlagzeilen. Denn es war als Pannenreaktor berüchtigt. Zwischen einem Brand und mehreren Kurzschlüssen in den Jahren 2007 und 2009 war das AKW nur noch wenige Tage am Netz – 2011 kamen dann die Katastrophe von Fukushima und der deutsche Atomausstieg.

Doch das Gelände, wo am Elbufer das Atomkraftwerk auf die Demontage wartet, hat noch eine andere Geschichte. Von weitem erinnert nur die durchs Geäst ragende Ruine eines Wasserturms daran. Jahrzehntelang sprach man hier lieber nicht über diese Vergangenheit, denn sie ist quasi hochexplosiv. Sie hat mit dem Mann zu tun, dem die Welt sowohl das Dynamit als auch die Nobelpreise verdankt. Sie hat mit Sprengstoff und Schießpulver zu tun, mit der Rüstungsproduktion für zwei Weltkriege, mit brutaler Zwangsarbeit während der NS-Zeit. Und sie hat zu tun mit der Atom-Euphorie während des Kalten Krieges. Die Geschichte beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals errichtete der schwedische Chemiker und Industrielle Alfred Nobel (1833–1896) auf dem Krümmel genannten hügeligen Dünengelände seine erste ausländische Sprengstofffabrik.

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Dünn besiedelt, aber nah an Hamburg – Geesthacht erschien 1865 als ideale Lage für eine Dynamitfabrik  (Foto: picture-alliance/CHROMORANGE/Christian Ohde)
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Dünn besiedelt, aber nah an Hamburg – Geesthacht erschien 1865 als ideale Lage für eine Dynamitfabrik

Geesthacht war damals noch ein Dorf. Nobel, der 1865 nach Hamburg gekommen war, hatte das Gebiet aus guten Gründen ausgewählt. Es war dünn besiedelt, lag unweit der Hansestadt in Flussnähe und schien für die gefährliche Produktion daher ideal. Tatsächlich flog schon 1866 ein Teil der Nobel-Fabrik in die Luft. Denn Nitroglycerin war damals noch fast unkontrollierbar, eine empfindliche Flüssigkeit, die durch den kleinsten Schlag explodierte. Nobel experimentierte mit verschiedenen Beimischungen – der Legende nach auch auf einem Floß auf der Elbe. Mit Kieselgur fand er schließlich den geeigneten Zusatzstoff. Die natürliche pulverförmige Substanz, die hauptsächlich aus den Siliciumdioxidschalen fossiler Kieselalgen besteht, bindet die Flüssigkeit. Als Stabilisator kam noch Natriumcarbonat (Soda) hinzu. Erfunden war das Dynamit, ein technisch handhabbarer Sprengstoff, der den Eisenbahn- und Straßenbau stark beschleunigen sollte.

Nobel errichtete in Europa und den USA rund ein Dutzend weitere Dynamitfabriken. In Krümmel wurden auch andere Erfindungen Nobels hergestellt, etwa die Sprenggelatine, ein wasserfestes Dynamit mit weit stärkerer Wirkung, sowie das Ballistit, ein rauchfreies Schießpulver. Früh war ihm die Gefahr des Missbrauchs des Sprengstoffs zu Kriegszwecken bewusst, doch er kannte auch den Wert für die zivile Nutzung im Industriezeitalter.

Mit seinem Testament verfügte er, dass ein Großteil seines Reichtums in eine Stiftung fließt; aus den Zinsen der angelegten Stiftungsgelder sollten dann verschiedene Preise vergeben werden, darunter auch der Friedensnobelpreis. Ob er dies aus schlechtem Gewissen tat – etwa weil seine Erfindung Ballistit im Krieg verwendet wurde –, ist bis heute umstritten. Nobel, befreundet mit der Pazifistin Bertha von Suttner (1843–1914), hatte sich zu einem solchen Motiv weder öffentlich noch in seinem Testament geäußert.

Es entstand die größte Sprengstofffabrik Europas

Bis zum Jahr 1910 entwickelte sich auf dem Nobel-Gelände die größte Sprengstofffabrik Europas mit 600 Arbeitern. Zusammen mit der ebenfalls bei Geesthacht liegenden Pulverfabrik Düneberg sprach man von der „Pulverkammer Deutschlands“. Während des Ersten Weltkriegs wuchs das Krümmeler Fabrikgelände auf die vierfache Größe an, die Zahl der Arbeiter stieg auf 2.750. Die Demontage nach dem Krieg sowie die Weltwirtschaftskrise ließen die Fabrik wieder schrumpfen.

Ab 1935 machten dann die Nazis die Fabrik zu einem riesigen Rüstungsbetrieb. Während des Zweiten Weltkriegs standen hier Hunderte Gebäude, umschlossen von einem 7,5 Kilometer langen Zaun. Nun wurden hier unter anderem Granaten und Fliegerbomben hergestellt. Rund 13.000 Zwangsarbeiter aus ganz Europa und Kriegsgefangene schufteten während des Krieges in den beiden Geesthachter Rüstungsfabriken. Im April 1945 wurden die Fabriken von den Alliierten besetzt und nach Kriegsende in großen Teilen demontiert und gesprengt.

In den 1950er-Jahren siedelte sich auf dem Krümmeler Gelände die Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt (GKSS) an. Physiker, die für das Atomwaffenprogramm der Nazis gearbeitet hatten, entwickelten das nuklear angetriebene Frachtschiff „Otto Hahn“. Das Schiff lief 1964 vom Stapel. Auch entstanden zwei Forschungsreaktoren, die inzwischen aber nicht mehr in Betrieb sind. Ebenfalls in den 1960er-Jahren begannen die Planungen für das Atomkraftwerk Krümmel, das von 1984 bis 2011 in Betrieb war.

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 Rund 13.000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene schufteten während des Krieges in den beiden Geesthachter Rüstungsfabriken. (Foto:Förderkreis Industriemuseum Geesthacht; picture-alliance/akg-images)
(Foto:Förderkreis Industriemuseum Geesthacht; picture-alliance/akg-images)

Rund 13.000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene schufteten während des Krieges in den beiden Geesthachter Rüstungsfabriken

Dass nach der Sprengstoff- und Rüstungsindustrie ausgerechnet die Atomindustrie hierherkam, kann man als Ironie der Geschichte betrachten. Mit der Frage, wie und warum das geschehen konnte, sowie mit vielen anderen historischen Hintergründen befasst sich seit 1998 ein Geesthachter Bürgerverein. „Nach Bombardierung und Demontage war Geesthacht, insbesondere der Krümmel, eine riesige Industriebrache, ein großes Notstandsgebiet mit enormer Arbeitslosigkeit. Da wollte man unbedingt Großprojekte gewinnen, und damals herrschte eine heute kaum noch vorstellbare Begeisterung in Sachen Atomenergie“, sagt Ulrike Neidhöfer, Vorsitzende des „Förderkreises Industriemuseum Geesthacht e.V.“. Diese habe damals als energie- und machtpolitischer „Heilsbringer“ gegolten, nicht als Risikotechnologie

Der Verein will die Erinnerung an das explosive industriehistorische Erbe wachhalten und widmet sich unter anderem der Erhaltung der historischen Bausubstanz der früheren Sprengstofffabriken, insbesondere des Wasserturms. Der Förderkreis veranstaltet historische Spaziergänge, Ausstellungen und Vorträge und setzt sich für ein Museum ein, in dem dann auch die NS-Zwangsarbeit thematisiert werden soll. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema begann spät: Erst Ende der 1990er-Jahre unternahm eine junge Hamburger Historikerin Forschungen dazu, ihre Magisterarbeit kam 2001 in der Schriftenreihe des Stadtarchivs heraus. 2005 erschien ein kurzer Aufsatz zu Zwangsarbeitern in der Zeitschrift „Lauenburgische Heimat“.

Seit 2013 wird in Geesthacht über ein Denkmal für die Zwangsarbeiter diskutiert.Bislang konnte sich allerdings der Förderkreis Industriemuseum weder mit der Sicherung der denkmalgeschützten Wasserturm-Ruine noch mit der Idee eines eigenen Museums durchsetzen. Beim Wasserturm zog der AKW-Betreiber Vattenfall nicht mit. Und die Stadt Geesthacht belässt es bei erweiterten Themenschwerpunkten zu Nobel in ihrem traditionellen Stadtmuseum. Das ist ein Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert, das nicht so recht zur Industriegeschichte passen will. Ein weiteres Museum scheint nicht erwünscht, zumal der Stadtsäckel nach dem Atomausstieg nicht mehr so reich gefüllt ist wie früher.

Hans-Hermann Kotte arbeitet als freier Journalist in Berlin. Als Junge hatte er ein Luftgewehr, später verweigerte er aber den Wehrdienst und arbeitete als Zivi in einer Kirchengemeinde und einem Kindererholungsheim