Klaus Hurrelmann, 57, ist ein deutscher Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler. Nach langjähriger Tätigkeit an der Universität Bielefeld arbeitet er seit 2009 als Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Er gilt als profilierter Jugendforscher.

fluter: In England sind die Proteste in Straßenkrawalle umgeschlagen. Was bleibt denn von der politischen Bewegung übrig, wenn die Häuser brennen?

Klaus Hurrelmann: Leider nicht viel. Dabei handelt es sich ja eindeutig um kriminelle Handlungen, die den legitimen Protest in ein falsches Licht rücken. Und es Politikern, die nichts an den ungerechten Verhältnissen ändern wollen, leider allzu leicht machen, nichts zu tun. Oder nur kriminalistisch zu reagieren, anstatt die Ursachen der Unzufriedenheit anzupacken.

Führt Gewalt nicht aber doch manchmal zum Erfolg von Protest – wie zum Beispiel in Libyen durch die Militäraktionen?

Während es in Tunesien und Ägypten eine relativ demokratische Protestkultur gibt, ist Libyen ein Sonderfall. Dort sind die staatlichen Strukturen eindeutig diktatorischer und totalitärer gewesen. Die Demos wurden von Anfang an mit polizeilicher und militärischer Gewalt zurückgedrängt. Da gibt es dann keine Möglichkeit mehr, auf dem politischen Weg etwas zu erreichen. Die politisch motivierte Strömung muss sich dann militärisch durchsetzen – in diesem Fall mithilfe von außen.

In den sechziger und siebziger Jahren waren die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei auch in Deutschland noch wesentlich härter. Hat der Staat daraus gelernt?

Auf jeden Fall. Man kann das gut am 1. Mai in Berlin beobachten, wo es oft nur noch um Krawall geht, und die Polizei dennoch besonnen reagiert. Wie wichtig es ist, keine Märtyrer zu schaffen, sieht man in England. Dort gab es vor der Randale ein Polizeiopfer, und dann hat es sich aufgeschaukelt. Es gab eine gewaltige Solidarisierung. Wir haben solche Eskalationen nicht – auch, weil die Polizei weniger rabiat auftritt, flexibler und geschulter mit Demonstranten umgeht. Die Bundesrepublik kann sich beim Umgang mit solchen Problemen sehen lassen.

Spanien, England, Niederlande – in vielen europäischen Ländern geht die Jugend auf die Straße, nur in Deutschland nicht. Ist die junge Generation hier zu brav?

Die Bereitschaft, seine Unzufriedenheit öffentlich zu zeigen und zu protestieren, hängt immer mit dem Leidensdruck zusammen, den man spürt. In Deutschland gibt es diesen Leidensdruck eher bei den sozial schlecht gestellten Menschen – all jenen ohne Schulabschluss oder Arbeitsplatz. Da sind Menschen drunter, die seit 15 Jahren abgehängt sind und schlichtweg verlernt haben, ihr Elend sichtbar zu machen.

Die leiden eher still vor sich hin, als auf die Straße zu gehen?

Die haben oft nicht mehr die Kraft oder die Fähigkeit, sich politisch auszudrücken. Einige driften vielleicht mal in eine radikale Ecke, ob nun links oder rechts, schließen sich zum Beispiel fremdenfeindlichen Organisationen an. Aber eine für die demokratische Öffentlichkeit oder die Medien sichtbare Protesthaltung gibt es nicht.

„Diese Jugend hat fast kleinbürgerliche Ideale“

Was muss passieren, dass Menschen aufstehen und sagen: so nicht?

Man sieht es ja derzeit in vielen Ländern Europas: Dort, wo sich gerade die jungen Menschen trotz guter Bildung um ihre Zukunft betrogen sehen, kommt es zu Demonstrationen. Das würde bei uns auch passieren, wenn die wirtschaftliche Krise etwa wie in Spanien die Hochgebildeten trifft. Nehmen wir mal an, von den doppelten Abiturjahrgängen bekommt nicht jeder einen Studienplatz. Oder später werden von den doppelten Studienjahrgängen viele arbeitslos. Dann wird sich auch bei uns der Protest formieren.

Viele haben den Eindruck, dass ihr Schicksal von einem weitgehend entfesselten Bankenwesen abhängt, dass durch Rating-Agenturen ganze Staaten durch bloßes Bewerten in den Ruin gestürzt werden können.

Natürlich hängt alles von der Ökonomie ab. Wenn die wirtschaftliche Krise die Jungen bedroht, kann es auch in Deutschland jederzeit zu Protesten kommen, da sollten wir nicht überrascht sein. Derzeit gibt es noch viele Übergangssysteme – das heißt: Hunderttausende stecken in Weiterbildungs- und Ausbildungsmaßnahmen. Die Arbeitslosigkeit ist auch deswegen nicht so hoch, weil sie durch dieses Übergangssystem teilweise geschönt wird. Aber auch das hat ja einen psychologischen Effekt. Sollten aber andere Konstellationen entstehen, muss man mit einer entsprechenden Reaktion rechnen.

Es sieht doch aber so aus, als wären viele Jugendliche manchmal zu sehr mit Smartphone und Laptop beschäftigt, als dass sie Probleme wahrnehmen. Anstatt zum Beispiel gegen den Datenmissbrauch im Internet zu demonstrieren, stellen sie ihr Privatleben auf Facebook aus und demonstrieren damit allenfalls Selbstverliebtheit.

Es ist in der Tat auffällig, dass die Sensibilität für den Datenmissbrauch bei der großen Mehrheit fehlt, weil man eben lieber der Faszination des Datenaustauschs erliegt, statt die Probleme zu sehen. Das könnte sich aber ändern, wenn noch deutlicher wird, was die großen Konzerne mit diesen Daten anstellen. Ich denke, da wird sich das Bewusstsein noch deutlich schärfen.

Was macht Sie da so sicher?

Diese Generation kommt ja aus dem Keller des politischen Interesses. Die Shell-Jugendstudie gibt es seit 1953, und so einen Tiefpunkt wie 2002 hat es noch nie gegeben, nicht nur in Deutschland. Seitdem klettern die Werte aber wieder. Vor acht Jahren war nur ein Drittel der Jugendlichen politisch interessiert, heute sind es schon wieder 40 Prozent.

Ist es nicht ein sehr kleiner Teil, der zum Beispiel für universelle Werte auf die Straße geht? Also etwa die Globalisierungskritiker, die zu den G8- Gipfeln reisen?

Schon. Dazu kann man Attac zählen, die Proteste gegen die Castortransporte oder für eine bessere Umwelt. Es sind grundsätzlich die besser Gebildeten, die sich für die großen, existenziellen Themen interessieren. Das war jahrelang die Umweltzerstörung an erster Stelle, das kann schon bald von der Wirtschaft verdrängt werden. Es geht aber auch um Terror, internationale Spannungen oder die weltweite Armut. Die Globalisierung als solche hat hingegen keinen Schrecken für die Jugend, es geht eher um das Thema Gerechtigkeit. Da haben viele das Gefühl, dass das in den Parteien kein Thema ist, und wenden sich anderen Organisationen zu.

Gibt es daher verhältnismäßig viele Nichtwähler?

Man sollte doch denken, dass die meisten froh sind, endlich mit 18 ihre Stimme abgeben zu können. Das ist auch eine Form des Protests. Die sind ja nicht unbedingt politisch desinteressiert, sondern äußerst skeptisch dem politischen Betrieb gegenüber. Das Interesse und Engagement gilt weniger den etablierten Parteien, sondern einem weniger formalen Sektor – den Menschenrechtsbewegungen etwa oder Bürgerinitiativen. Da machen auch viele punktuell bei Demos mit oder engagieren sich online in Foren. Aber wie gesagt: Die Jugend ist derzeit im Großen und Ganzen zufrieden mit der Situation, solange sie ihre eigenen Aufstiegschancen wahren kann.

Heute haben die Kinder oft Eltern, die gegen alles Mögliche protestiert haben. 68 ging es gegen autoritäre Lehrer und Altnazis, für Geschlechtergleichheit und sexuelle Befreiung. Später für Frieden und gegen Atomkraft. Ist der Protest deswegen ein bisschen unsexy für junge Menschen, weil die großen Schlachten geschlagen sind?

Ich glaube nicht, dass die junge Generation schaut, wie sie sich von den Eltern absetzen kann. Sie nimmt ihren Antrieb aus der eigenen kollektiven Deutung ihrer Chancen.

Dann ist sie doch deutlich lahmer als die eigenen Eltern …

Sie hat ganz klar recht bürgerliche Werte: Die Jungen von heute wollen in die wichtigen gesellschaftlichen Positionen hinein. Die haben ein bürgerliches, ja fast kleinbürgerliches Ideal. Die wollen später eine Familie und einen Arbeitsplatz.

Das klingt aber sehr angepasst.

Ich würde es eher defensiv nennen, ein bisschen zurückhaltend. Man will halt das schaffen, was die Eltern geschafft haben, und merkt, dass das schwer wird. Das ist nicht unpolitisch, sondern eine realistische Deutung der Ausgangslage, die in sich schlüssig und nachvollziehbar ist. Da lauert das Engagement eher unter der Oberfläche und wird aktiviert, wenn diese Generation merkt, dass ihr die Eltern ihre Chancen für einen sozialen Aufstieg nehmen. Solange sie den Eindruck hat, dass sie nicht untergebuttert wird, hält sie still.

Kann man es vielleicht auch so sagen, dass die Jugend früher kürzer war und die Jugendlichen mehr Power hatten und sie heute angesichts der langen Jugend mit ihren Kräften haushalten müssen?

Ja, da ist was dran. In dieser langgestreckten Jugendphase weiß man oft gar nicht, ob man wirklich in einen Beruf kommt, ob man wirklich eine Familie hat. Das sind oft 15 Jahre Ungewissheit. Da bleibt einem nichts anderes übrig, als auch einen Schuss Opportunismus und Egotaktik zu entwickeln. Man kann das nicht mit den Studenten von 1968 vergleichen. Die Zeiten heute sind andere, sie sind viel weniger kalkulierbar. Daher sind auch die Menschen heute weniger leicht entflammbar, sondern eher auf Kosten-und-Nutzendenken ausgerichtet.

Wäre es nicht dennoch wünschenswert, wenn den Jugendlichen das Erbe der Studentenbewegung von 68 bewusster wäre? Immerhin ist damals die liberale Gesellschaft erkämpft worden, in der wir heute noch recht kommod leben.

Das ist sicherlich ein Thema, das zum Beispiel in Schulen mehr Beachtung finden sollte. Dennoch darf man nachrückenden Generationen nicht verübeln, dass sie sich nicht ständig darüber bewusst sind, wer für sie die ganzen gesellschaftlichen Krusten aufgebrochen hat. Die Klügeren werden das jederzeit im Kopf haben. Es ist eh so, dass die Jugendlichen gegenüber der älteren Generation und ihrer Leistung sehr positiv eingestellt sind.

Es war doch aber immer auch Wesen eines widerständigen Geistes, dass man sich in der Jugend von den Eltern absetzt.

Man kann nur jedem wünschen, sich diese Widerstandskraft und die Fähigkeit zur Distanzierung zu bewahren. Aber das ist schwer. Das Elternhaus ist heute oft wohlhabend, liberal und lebendig. Das ist nicht mehr das Gefängnis von früher, sondern vielmehr ein interessanter Aufenthaltsort. Da ist es ganz schön schwer, sich davon zu lösen oder gegen irgendwas zu revoltieren. Eher studiert man die Verhaltensweisen der Eltern, um für das eigene Leben zu lernen: Wie gehen die mit Trennungen um? Wie mit dem Wechsel von Arbeitsplätzen?

Ist die Sehnsucht nach Harmonie größer als die nach Rebellion?

Ja, man sucht einen sicheren Hafen, nach einem festen sozialen Netz. Bei den Eltern scheint so ein schöner Heimathafen zu existieren. Jedenfalls hatten wir seit Langem nicht so eine positive Einschätzung der Eltern und so einen langen Aufenthalt im Elternhaus.

Man sieht immer mehr 50-Jährige auf Demonstrationen – zum Beispiel bei den Demonstrationen gegen Stuttgart 21. Verdrängt der betagte Wutbürger den jungen Rebell?

Da müsste man schon genauer hinsehen, wer da auf der Straße ist. Ich bin sicher, dass prozentual mehr Jugendliche protestieren. Wenn dreihundert 18-Jährige auf die Demo gehen, ist das was anderes, als wenn es dreihundert Rentner sind. Von denen gibt es ja viel mehr.

Die Jugendlichen haben bei den Revolutionen in Nordafrika verstärkt das Internet genutzt. Welche Rolle spielen diese Technologien in Zukunft für den Protest?

Das ist ein Medium, das viele Prozesse beschleunigt. Diese interaktiven Möglichkeiten gestatten neue Formen des Zugriffs auf Informationen, des massenhaften Zusammenkommens und der schnellen Nachrichtenvermittlung. Das wird von jungen Leuten natürlich schlafwandlerisch genutzt. Gleichzeitig gibt es aber auch die ablenkende Komponente.

Sie meinen: Das Internet macht die Schlauen schlauer und die Dummen dümmer?

Das Internet ist ein Transportmedium, das es leichter macht, wenn man politisch ist. Aber wenn man unpolitisch ist, nutzt es auch nicht. Es kann Proteste verstärken, aber es löst sie nicht aus.

Immerhin ist die Beherrschung solcher Technologie endlich mal was, womit man sich von den Eltern absetzen kann.

Das stimmt. Deswegen wird es ja oft mit Sympathie gesehen, wenn etwa Hacker gegen etwas protestieren, indem sie Internetseiten attackieren. Das ist auch die Freude am Kampf David gegen Goliath.

In den Vororten von Paris haben die Jugendlichen im Jahr 2005 und auch danach Autos angezündet und Barrikaden errichtet. Nun gibt es dort soziale Reformen. Ist das ein Erfolg des gewaltsamen Protests?

Das war eine authentische Form, seine Frustration zum Ausdruck zu bringen. Der Protest bediente sich gewalttätiger Formen, damit fiel er auf. Wir haben aber in Deutschland viel mehr Puffer, die solche Eskalationen auffangen. Es gibt nicht eine derartig hohe Jugendarbeitslosigkeit, nicht so viele abgehängte Migranten. Das ist der Unterschied. In Frankreich ist das eine große Gruppe, und die Politik hat gesehen, dass sie an der nicht vorbeigehen kann.

„Ich halte die Jugendlichen für ansprechbare Weltverbesserer“

Was macht eigentlich den Erfolg eines Protests aus?

Es geht darum, etwas zur Sprache zu bringen, das einen Nerv trifft, auch andere Gruppen in der Gesellschaft anspricht. Wenn man zum Beispiel gegen die großen Konzerne demonstriert, die ihre Risiken der Gesellschaft aufbürden, ihre Gewinne aber für sich behalten – dann interessiert das ja junge und alte Bürger. Außerdem geht es um Glaubwürdigkeit und Authentizität, beides muss spürbar sein. Und dann kommt es ganz entscheidend darauf an, wie lange man das Thema in der öffentlichen Diskussion halten kann. Die Anti-Atomkraft-Bewegung ist ein hervorragendes Beispiel für Langfristigkeit und den damit einhergehenden Erfolg, der ja in diesem Fall bahnbrechend ist. Diese Zähigkeit, immer wieder neue Generationen für das Thema zu gewinnen – das ist der Schlüssel zum Erfolg.

Auf der einen Seite wird man heute mit allen möglichen Freiheiten groß, auf der anderen Seite scheinen die Menschen immer weniger Einfluss auf die Entwicklung der Welt zu haben: Die Schere zwischen Erster und Dritter Welt wird immer größer, die Klimakatastrophe scheint unabwendbar. Schlummert da Protestpotenzial?

Sobald die Jugendlichen ein bisschen nachdenken, werden sie merken, dass ihre Freiheit eine schale Illusion ist. Weil sie auf Kosten anderer Menschen geht. Unser Konsum geht zu oft auf Kosten derer, die nichts haben.

Ist das bewusste Konsumentenverhalten die Zukunft des Protests? Ein Unternehmen trifft es schließlich mehr, wenn seine Waren nicht gekauft werden, als wenn 1000 Menschen mit Plakaten vor der Zentrale stehen.

Das funktioniert aber nur, wenn es nachhaltig unterfüttert ist mit einer Grundhaltung oder einer Ideologie. Wir sind Menschen, die sich nicht mehr an der Nase herumführen lassen und gesunde Lebensmittel wollen, faire Preise und Arbeitsbedingungen, Geschlechtergleichheit. Das könnte nach der Anti-AKW-Bewegung das Zeug zu einem großen Thema haben. Und die Jugendlichen sind mit ihrer intuitiven Stimmung Trendsetter und Seismografen der Protestgesellschaft. Auch die Parteien sind gut beraten, sich darum zu kümmern.

Aber sind nicht die Jungen ein Abbild der Alten und deren Widersprüchlichkeit? Grün denken und wählen, aber mit Easyjet durch die Welt jetten und in Kinderarbeit hergestellte Laptops kaufen.

Diesen Widerspruch kann man als Jugendlicher aushalten. Ich denke aber, dass die junge Generation nicht immer damit leben wollen wird. Und dann werden diese Widersprüche bearbeitet, dann kommt es zu Boykottaktionen. Aber es gilt auch: Junge Leute suchen nach einer Verbesserung der Lebensqualität, die wollen im Hier und Jetzt leben, fünfe gerade sein lassen, Spaß haben. Auf lange Sicht halte ich sie aber für ansprechbare Weltverbesserer.

Sie sind also optimistisch?

Ich denke, dass wir es mit einer zuweilen erschreckend pragmatischen Generation zu tun haben. Da würde ich mir manchmal mehr politischen Zunder wünschen. Aber wenn es hart auf hart kommt, ist diese Generation da: An der Oberfläche scheinbar unpolitisch, aber auf der Hut, wach und handlungsfähig. Nach kurzer Orientierung kann sie sehr rebellisch sein, wenn sie sich um die Früchte ihrer Ausbildung betrogen sieht.