Warum es beim Eurovision Song Contest (ESC) ein Gesangsduell zwischen Russland und der Ukraine geben wird und warum dem Beitrag aus Moskau wieder Buhrufe und Pfiffe drohen. Der Musikexperte Irving Wolther erklärt die Rolle Russlands bei dem Gesangswettbewerb, der im Mai in Wien ausgetragen wird.

fluter.de: Russland nimmt am diesjährigen Eurovision Song Contest in Wien teil, die Ukraine hat dagegen wegen der instabilen finanziellen und politischen Lage abgesagt. Was meinen Sie, wird der Ukraine-Konflikt bei dem Wettbewerb eine Rolle spielen?

Irving Wolther: Auf jeden Fall. Ein Gesangsduell zwischen Russland und der Ukraine wird es nämlich trotzdem geben. Denn der Sänger Eduard Romanýuta, der für die Republik Moldau antritt, kommt aus der Ukraine und wollte ursprünglich für sein Heimatland antreten. Er hat in Moldau quasi musikalisches Asyl gefunden.

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Nach vielen Enttäuschungen gewann Russland 2008 mit Dima Bilan (Foto: Jörg Carstensen/dpa)
(Foto: Jörg Carstensen/dpa)

Schon im vergangenen Jahr hinterließ der Ukraine-Konflikt deutliche Spuren beim ESC. Die russischen Teilnehmerinnen, die Tolmachevy Sisters, wurden in Kopenhagen vom Publikum ausgebuht, es gab Pfiffe bei der Punktevergabe. Auch sollen ESC-Fans die russische Fahne mit Füßen getreten haben. Finden Sie das angemessen?

Ich finde Buhrufe grundsätzlich nicht in Ordnung, denn sie treffen die Falschen. Die Tolmachevy Sisters konnten doch nichts dafür, welche Lage bei ihnen im Lande herrscht. Es war schon ein wenig unfair, dass das Zwillingspärchen die russlandfeindliche Stimmung im Saal abbekommen hat. Welche Entscheidungsgewalt, welchen Einfluss haben diese jungen Sängerinnen schon? Will man Widerstandsgesten von ihnen erwarten?

Sind solche Reaktionen nicht verständlich? Zum Zeitpunkt des letztjährigen ESC hatte Russland bereits die Krim annektiert, in der Ostukraine wurde gekämpft.

Ja, verständlich ist das schon. Aber war das nun hehrer Protest? War das nicht eher Ausdruck einer allgemeinen Ablehnung, war da nicht auch billiges Ressentiment dabei? Auch ohne hier den Russland-Versteher zu machen: Was bringt das denn wirklich? Buhs und Pfiffe können in den Medien leicht so dargestellt werden, als seien das bloß vereinzelte verirrte Gestalten, die sich da austoben.

Aber die negativen Reaktionen des Publikums in Kopenhagen waren schon sehr deutlich …

Klar war das zu hören. Ein Statement, dass man mit der Politik nicht einverstanden ist, ließe sich aber auch abgeben, ohne dass die Künstler ausgebuht oder ausgepfiffen werden. Schweigen, Stille. Das Publikum könnte beim Applaus lautlos klatschen, ohne dass sich die Hände berühren. Das wäre doch mal ein Signal.

Mit einer Friedensdemo von ESC-Fans in Wien rechnen Sie nicht?

Nun ja. Bislang haben die Fans jedenfalls weder das russische Promo-Material boykottiert, noch haben sie es abgelehnt, auf Partys der russischen Delegation zu gehen.

Der russische Song für Wien in diesem Jahr wurde bei stern.de schon heftig kritisiert. „A Million Voices“, gesungen von Polina Gagarina, sei ein „Weltverbesserer-Schmachtfetzen“. Im Text wird um Frieden gebetet, und dazu meint der Kritiker, das sei „zum Kotzen“.

Wahrscheinlich würde in der jetzigen aufgeheizten Situation sogar ein Act wie die Buranowski Babuschki ausgepfiffen. Das waren die sechs Folklore-Großmütterchen, mit denen Russland 2012 antrat – und die viele ganz kultig fanden. Der diesjährige russische Song ist ganz allgemein ölig und anbiedernd. Den könnte man auch „zum Kotzen“ finden, wenn ihn Ralph Siegel für San Marino geschrieben hätte.

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Nach vielen Enttäuschungen gewann Russland 2008 mit Dima Bilan (Foto: Jörg Carstensen/dpa)
(Foto: Jörg Carstensen/dpa)

Politischen Streit gab es 2014 auch um die österreichische Gewinnerin, die Dragqueen Conchita Wurst. Russische Politiker äußerten sich deutlich homophob über die Diva mit Vollbart, was dem Land wiederum Kritik einbrachte.

Solche Sprüche sind inakzeptabel. Aber die Homophobie in der russischen Gesellschaft ist keine neue Entwicklung. Das Gesetz gegen „Homo-Propaganda“, erlassen im Sommer 2013, ist da ein trauriger Höhepunkt. Man sollte aber nicht vergessen, dass es auch in Österreich, der Heimat von Conchita Wurst, homophobe Reaktionen gab. Auch aus der Politik. Der Westen ist nicht das Land der Seligen.

Russland schien beleidigt zu sein in Sachen ESC im vergangenen Jahr. Warum nimmt das Land eigentlich noch teil? Hieß es nicht, dass Russland den Intervision Song Contest, die einstige osteuropäische Konkurrenzveranstaltung, wiederbeleben wolle?

Die Wiederbelebung des Intervision Song Contest ist weiterhin im Gespräch. Aber das hat nichts damit zu tun, dass Russland schmollen würde. Das sollte ursprünglich schon 2009 passieren. Und der Hintergrund ist, dass man andere Länder, andere Interessensphären an sich binden will. Ähnlich wie beim Turkvision Song Contest, wo die Türkei die turksprachigen Länder um sich schart. Da geht es um handfeste Interessen – wirtschaftliche und auch geopolitische.

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Nach vielen Enttäuschungen gewann Russland 2008 mit Dima Bilan (Foto: Uli Deck/dpa)

Nach vielen Enttäuschungen gewann Russland 2008 mit Dima Bilan

(Foto: Uli Deck/dpa)

Russland ist seit 1994 beim ESC dabei und war nach dem Sieg von Dima Bilan auch einmal Gastgeber. Als der Wettbewerb 2009 in Moskau stattfand, gab es Ärger. Was war da los?

Schon im Vorfeld gab es politische Kontroversen wegen des Georgien-Konflikts. Georgien musste seinen Beitrag zurückziehen, denn das Lied konnte als Anti-Putin-Song verstanden werden. Und während des Wettbewerbs setzte die Moskauer Polizei Schlagstöcke gegen Schwule und Lesben ein, die eine Homo-Parade durchführen wollten. 

Den ESC gibt es nun seit 60 Jahren. War er immer schon so politisch aufgeladen?

Ein Wettbewerb, bei dem sich Länder gegenseitig Punkte geben, kann gar nicht unpolitisch sein. Zumal eher staatsnah organisierte öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten den Auftritt beim ESC quasi als hoheitliche Mission betrachten.

Welche historischen Beispiele gibt es da?

Im Hintergrund hat die Politik beim ESC schon seit den 1960er-Jahren eine Rolle gespielt. Man denke an die Diktaturen in Portugal und Spanien, die Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland sowie zwischen Israel und der arabischen Welt. Auch der Zerfall Jugoslawiens und die Balkankriege haben beim ESC ihre Spuren hinterlassen. Beim ESC 2012 in Aserbaidschan wurden die eingeschränkten Bürgerrechte dort zum Thema.

Wie kann man die Rolle Russlands beim ESC beschreiben?

Die war zunächst geprägt von der Enttäuschung, als große Nation nicht so recht anerkannt zu sein. Das Ergebnis war eine gewisse Verbissenheit, mit der die Song-Contest-Teilnahme fortan verfolgt wurde. Der völlig überinszenierte Auftritt des russischen Sängers Dima Bilan, der 2008 mit der Unterstützung von Eiskunstlauf-Weltmeister Jewgeni Pljuschtschenko den Wettbewerb gewann, ist ein schönes Bild dafür, wie Russland danach giert, als führende Nation in Europa anerkannt zu werden.

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ESC-Experte Irving Wolther (Foto: Eike Klingspohn)

ESC-Experte Irving Wolther

(Foto: Eike Klingspohn)

Irving Wolther, Jahrgang 1969, ist studierter Sprach- und Kulturwissenschaftler. 2006 promovierte er an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover über den Eurovision Song Contest. Wolther arbeitet als freier Autor unter anderem für eurovision.de, die ESC-Website des NDR.