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Insel der Gläubigen

Auf Urk sind Impfungen verpönt: Warum Gott ins Handwerk pfuschen? Zu Besuch in der vielleicht gläubigsten Kleinstadt Europas

Wenn Lianne Snoek in Amsterdam erzählte, wo sie herkommt, bekam sie oft dieselben Fragen gestellt: „Warum trägst du keinen Rock?“ oder „Musst du jetzt nicht in der Kirche sein?“ Ihre kleine Heimatstadt Urk ist in den Niederlanden jeder und jedem ein Begriff: So strenggläubig wie hier sind die Menschen an kaum einem anderen Ort in Europa.

Urk hat 21.000 Einwohner*innen und liegt am nordöstlichen Ende des sogenannten „Bibelgürtels“, der sich quer durchs Land zieht: Heimat und Hochburg strenggläubiger Protestant*innen. Das Stadtbild ähnelt anderen niederländischen Kleinstädten – mit braunen Backsteinhäusern, großen Fenstern, einem kleinen Hafen. Doch einiges ist anders: Sonntags fährt kein Bus, die streng religiöse Partei SGP schaltet ihre Homepage ab – und die Kirchen sind gefüllt bis auf die letzten Plätze. Mehr als 90 Prozent der Bewohner*innen gehen regelmäßig zum Gottesdienst, sonntags viele gleich zweimal. Urk war früher eine Fischerinsel, der Glaube gab Halt in stürmischen Zeiten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts bauten die Niederlande einen Deich, die Stadt wurde dadurch – und durch Landgewinnung – ans Festland angedockt. Doch sie blieb eine Insel der Gläubigen. Noch heute wohnt man „auf“ und nicht „in“ Urk. 

Frauen dürfen nicht predigen, aber in Hosen zum Gottesdienst kommen

Lianne arbeitet seit ihrem Fotografiestudium als Hochzeitsfotografin – auf Urk ein einträgliches Geschäft. Seit 1980 hat sich die Einwohnerzahl der Stadt mehr als verdoppelt, nirgendwo im Land ist die Geburtenrate höher. Das Wohnzimmer im Urker Reihenhaus, in dem die 25-Jährige mit ihrem Mann wohnt, unterscheidet sich kaum von Amsterdamer Hipsterbuden. Die Notizen-App ihres Smartphones schon: Dort führte sie vor ihrer Hochzeit eine Liste über ihre Aussteuer: Haushaltswaren, die junge Frauen für Auszug und Ehe sammeln. Ihre Kommiliton*innen scherzten: „Und unsere größte Sorge ist, was wir heute Abend trinken!“ 

Zum Ende ihres Studiums beschloss Lianne, sich nicht mehr für ihre Herkunft zu schämen, machte sie sogar zum Thema ihrer Abschlussarbeit: Die Fotos zeigen Liannes modisch gekleidete Schwägerin zwischen Bügelbrett und Haushaltswaren, eine sehr junge Frau mit ihren vier Kindern oder ein lesbisches Paar am Strand. „Wir sparen zwar Aussteuer, aber wir sind auch modern. Wir heiraten früh, aber wir sind offen für andere sexuelle Orientierungen. Wir sind gläubig, aber wir haben Visionen“, sagt Lianne. 

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Lianne Snoek
Lianne Snoek aus Urk ist gläubige Hochzeitsfotografin. Sie lichtet aber auch lesbische Paare ab

Ihre Kirchengemeinde gilt für Urker Verhältnisse als liberal: Frauen dürfen nicht predigen, aber in Hosen zum Gottesdienst kommen. Das ist nicht überall so. Heute gibt es rund 20 protestantische Kirchengemeinden – jede mit etwas anderen Regeln. Die Bandbreite reicht von der großen landesweiten protestantischen Kirche bis zu kleinen Freikirchen, die sich an der strengen Lehre des Reformators Calvin orientieren. 

Natürlich spüren sie auch im Bibelgürtel den Einfluss von Social Media

Zu den besonders konservativen gehört die Moria-Gemeinde. Peter Morren ist dort Mitglied im Kirchenrat, außerdem Lehrer an einer Schule. Im Biologieraum packt er seine Tasche, eine Echse badet im künstlichen Licht des Terrariums, im Käfig daneben schläft ein Hamster. Für Peter sind sie Teil seiner Faszination für die Schöpfung. Die Evolutionstheorie von Charles Darwin erklärt der 38-Jährige seinen Schülern, weil der Lehrplan es von ihm verlangt. Aber er selbst glaubt nicht daran. „Wenn ich die Bibel öffne, lese ich in der Genesis, dass Adam und Eva die ersten Menschen sind. Ich lese da nichts über Urmenschen.“ 

Die Heilige Schrift ist der Kompass im Leben von Peter Morren, auch der Tag an der Schule beginnt mit einem Blick in die Bibel. Mädchen und Frauen müssen hier Rock oder Kleid tragen. Es geht nach Darstellung der Schulleitung dabei nicht ums Verhüllen, sondern darum, die Geschlechter zu unterscheiden, was die hier gepredigten Rollenbilder festigen soll. Peter ist auch im Kirchenrat für die Jugendarbeit zuständig. Er merkt, dass junge Menschen Fragen haben, dass sie zweifeln. Vor allem in einer Welt, die unübersichtlicher und über soziale Medien auch im Bibelgürtel immer sichtbarer wird. Sie schauen Serien, sie entwickeln eigene Gedanken. Manche schlafen lieber aus, als sonntags früh in die Kirche zu gehen. Das sei lange undenkbar gewesen.

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Peter Morren
Lehrer Peter Morren unterrichtet die Evolutionstheorie – auch wenn er nicht an sie glaubt

Auf manche Fragen weiß auch die Bibel keine rechte Antwort. Zum Beispiel, warum die Zahl der Jugendlichen, die exzessiv trinken, auf Urk doppelt so hoch ist wie im Durchschnitt der Provinz. Auch über andere Fragen gibt es Streit: Knapp 90 Prozent der 2009 geborenen niederländischen Schulkinder sind gegen Masern geimpft – auf Urk sind es nur 59,5 Prozent, und immer wieder kommt es zu Ausbrüchen der Krankheit. Auch Peter Morren hat seine sechs Kinder nicht impfen lassen. Er zweifelt an der Wirksamkeit. Vor allem will er Gott nicht ins Handwerk pfuschen. „Wir glauben, dass Krankheit wie auch Wohlstand aus Gottes Hand kommen.“ Katastrophen, Kriege, die Corona-Pandemie – das gehört für ihn zur Phase vor der Errichtung des Königreichs Gottes. Himmel, Erde, Menschen und Tiere: Alles werde dann neu erschaffen.

Diese Überzeugungen sind radikal. Trotzdem hat die kleine Gruppe der Strenggläubigen einen festen Platz in der niederländischen Gesellschaft. Sie betreibt Zeitungen, Rundfunkprogramme, Schulen, verschafft sich Gehör über eigene Parteien. So bleibt der Glaube mächtig, auch wenn sich manches wandelt: Viele Urker*innen heiraten jung – und gehen doch wie andere Gleichaltrige oft feiern. In der Corona-Pandemie haben selbst besonders konservative Gemeinden das Internet für sich entdeckt, um Gottesdienste zu streamen.

Wer mit dem Glauben bricht, bricht mit Urk – und der Familie

 

Salam Kadhim, 28, musste sich an ihre neue Heimat erst gewöhnen. Vor sieben Jahren kam sie der Liebe wegen nach Urk – ihre Freundin ist hier aufgewachsen. Salam ist anders als die Urkerinnen, in vielerlei Hinsicht. Städterin, Lesbe, „Ungläubige“. Noch dazu mit Wurzeln in anderen Ländern: der Vater Iraker, die Mutter Halbsurinamesin. Die Zugezogene hat trotzdem einen Weg in die Stadtgesellschaft gefunden – über die Kunst. Sie bemalt Wände von Kinder- und Wohnzimmern. 

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Salam Kadhim
Verbotene Liebe? Salam Kadhim (28) kam wegen ihrer Freundin nach Urk – das es dem jungen Paar nicht leicht machte

Zweimal kamen die Ältesten der Kirchengemeinde, in der ihre Partnerin Mitglied ist, zu Besuch – um zu fragen, ob die beiden nicht einfach „nur Freundinnen“ sein können. Salam scheut die Diskussion nicht. Den Pfarrer hat sie gefragt: „Wie kann man jemandem die Liebe verwehren?“ Sie versteht nicht, warum ihre Lebensgefährtin so wenig an der Kirche zweifelt, obwohl sie selbst von ihr ausgegrenzt wird. Die entgegnet ihr nur: „Du solltest nicht so viele Fragen stellen. Die Dinge sind einfach so.“ Ein Bruch mit dem Glauben wäre für viele Menschen hier ein Bruch mit der Familie – und die spielt auf Urk eine große Rolle.

Manchmal fühlt Salam sich eingeengt: von immer gleichen Abläufen, von den Röcken, die sie sonntags für den Familienfrieden trägt. Das Paar wird nicht heiraten, auch Kinder möchte die Künstlerin hier nicht großziehen. Dass sie wegziehen, hält sie dennoch für unwahrscheinlich: „Wer auf Urk aufwächst, geht hier nicht weg.“

Titelbild: IMAGO / ANP

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