Du in deinem Einfamilienhaus lachst mich aus
Weil du denkst, du hast alles, was du brauchst
Doch im MV scheint dir die Sonne ausm Arsch
In meinem Block weiß es jeder: Wir sind Stars!

Das Märkische Viertel liegt ganz im Norden Berlins, dort, wo es bereits Straßen mit Einfamilienhäusern gibt und Berlin plötzlich aussieht wie eine deutsche Kleinstadt. Und dann kommt da doch noch was, sogar etwas ziemlich Großes: eine Ansammlung von Hochhausriesen, so weit man blickt – die meisten aus weiß getünchtem Stahlbeton, manche sind auch bunt angemalt, ein bisschen Farbe kann ja nicht schaden. „Todesarchitektur“ nennt das der Comiczeichner Fil, der im Märkischen Viertel aufgewachsen ist und es in seiner Autobiografie „Pullern im Stehn“ ausgiebig würdigt: als Ort, an dem man zu einem scharfsinnigen, aber durchaus liebevollen Urteil über seine Mitmenschen kommen kann.

Von 1963 bis 1975 wurden dort rund 16.400 Wohnungen gebaut. Die Bäume, die man damals zwischen die Häuser pflanzte, sind längst groß geworden, ihre Wipfel rauschen jetzt im Wind. Die RAF-Terroristen Ulrike Meinhof und Horst Mahler haben sich hier sozial engagiert, bevor sie gewalttätig wurden, der Rapper B-Tight wuchs im MV auf – und Sido, der es in seinem Song „Mein Block“ verewigte. In dem geht es fast ausschließlich um Sex und Drogen und darum, wie geil es ist, in dieser Nachbarschaft zu wohnen. So hat Sido das Viertel, als es schon fast vergessen war, ein wenig berühmt gemacht – und auch ein bisschen berüchtigt.

Die Statistik sieht aber anders aus als in Sidos Kopf: Laut dem Berliner Kriminalitätsatlas 2013 (PDF) liegt die Verbrechensrate im Märkischen Viertel leicht unter dem Berliner Durchschnitt, es gibt dort etwas mehr Raub und Körperverletzungen als anderswo, dafür weniger Diebstähle, Einbrüche und Drogendelikte.

Als das Märkische Viertel entstand, war die Hoffnung groß, die Hoffnung auf ein schöneres Wohnen, auf ein menschenwürdigeres Leben. Denn dort, wo nun der Beton wuchs, standen zuvor armselig zusammengezimmerte Hütten, die nicht mal an die Kanalisation angeschlossen waren. Sie wurden abgerissen und an ihrer Stelle moderne Wohnungen für 40.000 Menschen geschaffen. Die Familien, die ins neue Viertel zogen, kamen nicht nur aus den Hütten, sondern auch aus unsanierten Altbauwohnungen in Kreuzberg oder Neukölln, die zwar wunderschönen Stuck an der Decke hatten, aber die Toilette draußen auf dem Flur und statt Heizungen alte Öfen. Viele schätzten sich nun glücklich und fühlten sich auch ein bisschen wie Pioniere. Die erste Neubausiedlung Westberlins neben der fast gleichzeitig erbauten Gropiusstadt bewies, dass auch Bürger mit einem kleinen Einkommen komfortabel leben konnten.

Doch die Euphorie hielt nicht lange an. Zu der Zeit, als die 68er-Bewegung, oft Studenten, gegen das Establishment protestierte, stellte man auch schnell die Frage, wie sozial die neue Wohnform tatsächlich sei – und hatte die Antwort ebenso schnell parat: Von „menschenverachtender Architektur“ sprach ein Arzt aus dem Märkischen Viertel im „Spiegel“ bereits 1970. Dazu wurden Fotos aus den Schluchten der weißen Klötze gedruckt: vernachlässigte Kinder, Erwachsene mit Bierflaschen statt Perspektive.

„Der lange Jammer“ hieß ein Dokumentarfilm, benannt nach einer Kette aus mehreren zusammenhängenden Hochhäusern, 18 Stockwerke hoch. Das Viertel war noch nicht ganz fertiggestellt, da galt es schon als unbewohnbar. Man erzählte sich, dass die Menschen in ihren Betonschubladen psychisch krank würden und die Kinder dort in die Flure pinkelten, weil sie es nicht bis in ihre Wohnung schafften. Sogar Führungen ins schlimme Viertel gab es, damit sich die Touristen nicht nur an der Mauer gruseln konnten.

Hier kriege ich alles – Ich muss hier nicht mal weg
Hier hab ich Drogen, Freunde und Sex
Die Bullen können kommen, doch jeder weiß Bescheid
Aber keiner hat was geseh’n, also könnt ihr wieder geh’n

Märkisches Viertel, 2015: In der „Märkischen Zeile“, einem Einkaufszentrum inmitten der Häuser, sitzen gut frisierte Ehefrauen mit ihren Männern vorm Griechen und trinken zum Mittagessen Ouzo. Wenn sie aufstehen, klopfen sie denen, die noch dort bleiben, auf die Schulter. Viele wohnen seit den 70er-Jahren hier.

Es gibt auch manche, die von außerhalb dazukommen, weil sie es hier so gemütlich finden. Es ist so eine Art Expertenrunde für das „Merkwürdige Viertel“, wie die Jugendlichen den Ort nennen, wobei man immer auch ein wenig den Stolz heraus­hören kann – darüber, an einem Ort zu wohnen, der den meisten auf den ersten Blick zu grimmig erscheint, zu unwohnlich. ­Deswegen zitieren sie auch so gern Sido.

„Eine schwangere Frau, Kippe im Mund, rechts der Hund, links der Kinderwagen“, so sei das Bild vom Märkischen Viertel, sagt eine Frau mit kurzen grauen Haaren, die hier zehn Jahre lang in einem Fotogeschäft gearbeitet hat. „Aber hier wohnt auch Intelligenz, hier wohnen Künstler, sogar hochkarätige Manager, das weiß ich.“ Verstohlen deutet sie auf den braun gebrannten Mann ihr gegenüber: „Er hat wahrscheinlich die schönste Wohnung im Viertel: im vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Stock, über drei Etagen.“ Seit 1978 wohne er da, seine Frau sei Japanerin. Die wolle immer weg, weil es ihr hier zu bunt sei.

„Die Mittelschicht prägt die öffentliche Meinung. Und als urbanes Wohnideal der Mittelschicht gelten seit Ende der 1960er-Jahre innerstädtische Altbauten: Sie stehen für Individualität, Geschichtsbewusstsein“, erklärt die Kulturwissenschaftlerin Christiane Reinecke von der Universität Leipzig, die eine Arbeit über marginalisierte Räume schreibt. Menschen, die in Hochhaussiedlungen lebten, müssten sich ständig damit auseinandersetzen, dass die eigene Wohnumgebung bei anderen nicht als ideal gelte. Auch im Märkischen Viertel würden die Eigen- und die Fremdwahrnehmung stark auseinandergehen. Die Menschen, die hier wohnen, täten das allerdings in der Regel gern, versichert sie: „Es gibt ein pragmatisches Sich-Einrichten im Alltag. Das, was einige am Märkischen Viertel kritisieren, das durchgeplante, funktionale Wohnen, schätzen die Bewohner. “

Mein schöner weißer Plattenbau wird langsam grau
Drauf geschissen! Ich werd auch alt und grau im MV

Von den 16.916 Wohnungen des Märkischen Viertels gehören 15.043 der Gesobau, einem der städtischen Wohnungsunternehmen. Alle Wohnungen des Märkischen Viertels wurden als ­Sozialwohnungen errichtet, nach einer gewissen Zeit verfällt dieser Status. Gegenwärtig sind noch 214 Sozialwohnungen übrig. Allerdings haben sich die städtischen Wohnungsbaugesellschaften in Berlin 2012 dazu verpflichtet, 50 Prozent der Wohnungen innerhalb des S-Bahn-Rings an Menschen mit geringem Einkommen zu vermieten.

Seit 2008 wurden im MV nach und nach alle Wohnungen energetisch modernisiert, es gilt als ­bisher größtes Sanierungsprojekt Deutschlands. In einer Box mit einer Musterwohnung konnten sich die Bewohner damals informieren. Nachdem das Märkische Viertel 2014 seinen 50. Geburtstag gefeiert hatte, wurde die Box zu einer Art Kulturzentrum, in dem jetzt Nähkurse und Konzerte stattfinden. „Großsiedlungen wirken eigentlich wie Überbleibsel aus der Vergangenheit. Aber sie haben etliche Vorteile“, meint Anna Müller, die dort arbeitet. Gerade älteren Menschen und Familien komme die Funktionalität der Siedlungen entgegen: die Nahversorgung, die Barrierefreiheit, die Infrastruktur. Berlin brauche die urbane Dichte, denn es gebe nicht endlos Platz.

Tatsächlich steigen die Mieten in Berlin weiter, alteingesessene Anwohner müssen ausziehen, damit teure Eigentumswohnungen entstehen können, unter anderem luxussanierte Altbauwohnungen für Kunden aus aller Welt. Dies ist der Preis, den viele dafür zahlen, dass Berlin mittlerweile international das Image einer aufregenden Metropole hat. Daher entdecken zunehmend mehr Menschen, dass man auch woanders wohnen kann als dort, wo alle hinwollen. Und dass es sich sogar in den Hochhäusern von Marzahn oder Gropiusstadt leben lässt. Natürlich auch im „Merkwürdigen Viertel“ – wovon schon manche zuvor überzeugt gewesen waren.

Die Menschen leben inzwischen über mehrere Generationen hier, die Wohndauer liegt bei rund 17 Jahren. Das ist eine ziemlich gute Bilanz, wenn man an die Diskussionen aus den 1970er-Jahren denkt. Dass sich gewisse Gruppen im Viertel konzentrieren – Menschen mit Migrationshintergrund, Rentner und Arbeitslose –, müsse nicht schlimm sein, sagt die Kulturwissenschaftlerin Christiane Reinecke. „Für soziale und ethnische Durchmischung gibt es gute Gründe. Aber es kann auch schön sein, wenn ich mich mit Menschen meiner Community umgebe. Ähnlichkeit kann stabilisieren.“ Sie unterstreicht, das Viertel sei auf die Beine gekommen, als sich die Leute eingelebt hatten und sich über die Jahre ein Wir-Gefühl entwickeln konnte.

Yeah, jetzt könnt ihr euch entscheiden
Wer hat den geilsten Block in Deutschland, Alter?

Inmitten der weißen Hochhausriesen hängt ein blondes Mädchen kopfüber vom Klettergerüst, ein schwarzer Vogel pickt nach ihr. „Ein seltener Vogel“, sagt ein Junge, dem ein zarter Flaum auf der Oberlippe sprießt. „Er hat keine Angst.“

„Eine Elster“, erwidert das Mädchen. „Sie fliegt nicht weg, weil sie das Märkische Viertel auch mag.“

Fotos:  Dawin Meckel/Ostkreuz