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Schweizer Schnüffler

In der Schweiz spionieren private Detektive Sozialhilfeempfängern hinterher. Via Volksabstimmung gab die Bevölkerung den Versicherungen nun grünes Licht, auch umstrittene Methoden anzuwenden

Sozialdetective

Von Herrn O.s Geschichte gibt es zwei Versionen. Eine von der Schweizer Invalidenversicherung, die andere von ihm selbst, seinen Psychiatern, Anwälten und Bekannten. In der einen ist er ein arbeitsfähiger Mann, der zu Unrecht eine Invalidenrente bezogen hat. In der anderen ist er ein Opfer der Sparpolitik der Schweizer Sozialversicherungen, ein schwer traumatisierter und psychisch kranker Mann, dem die Versicherung durch eine verdeckte Überwachung noch weiteren Schaden zugefügt hat.

Update, Stand: 27.11.2018

Im März hatte die Schweizer Regierung ein Gesetz verabschiedet, das im Verdachtsfall die heimliche Überwachung von Versicherten erlaubt.

Eine Gruppe von Privatleuten versuchte das Gesetz mittels Referendum anzufechten.

Am Sonntag stimmten nun 64,7 Prozent der Schweizer für das Gesetz.

Die verdeckte Überwachung von Sozialleistungsbeziehern wird in der Schweiz kontrovers diskutiert. Anlass ist ein Gesetz, das den Sozialversicherungen erlauben soll, bei Verdacht auf unrechtmäßige Leistungsbezüge Versicherte durch Privatdetektive beschatten zu lassen. Das wurde in der Schweiz bereits mehrere Jahre lang so praktiziert, bisher aber mit einer Rechtsgrundlage, die sich im Nachgang vor Gericht nicht immer als ausreichend erwiesen hat. Das Gesetz sichere nun ein nötiges und effizientes Mittel, um Missbräuche zu verhindern, sagen Befürworter; das sei wichtig für das Vertrauen in die Sozialversicherungen. Die Gegner sehen darin ein Geschenk an eine starke Lobby, die ein Interesse daran hat, möglichst wenig zu zahlen.

Herr O.s Geschichte beginnt 1960 im Norden Irans. Aufgewachsen in guten Verhältnissen, wird er als Jugendlicher in den frühen Jahren der Islamischen Revolution politisch aktiv. Als er zum ersten Mal verhaftet wird, wird er verhört, gefoltert, dann wieder entlassen. Auf den Straßen seiner Heimatstadt fühlt er sich fortan beobachtet. Als sie ihn zum zweiten Mal in die Finger bekommen, bleibt er ohne Prozess fünf Jahre im Gefängnis, eineinhalb davon in Isolationshaft in einer Dunkelzelle. Er erträgt tägliche Folter, Scheinexekutionen und den Tod vieler Mitinhaftierter. Als er freikommt, flüchtet er in die Türkei. 1989 kommt er, von der UNO vermittelt, in die Schweiz, lernt schnell Deutsch, arbeitet als Medizinlaborant, wird später eingebürgert. Mit seinen traumatischen Erinnerungen scheint er leben zu können. Doch dann benötigt er eine Herzoperation. Sie verläuft nicht ohne Komplikationen, Herr O. wird lange krankgeschrieben, sitzt untätig zu Hause. Und plötzlich ist die Vergangenheit wieder da, sagt er. Sie bohrt sich ihren Weg in seine Träume, seinen Alltag, seinen Körper, der ständig schmerzt. Herr O. funktioniert nicht mehr.

Weil Herr O. ins Café geht und dabei auch schon mal lacht, wurde ihm die Rente gestrichen

So sehen das auch seine Psychiater, die ihn für weitgehend arbeitsunfähig befunden haben. Anders sieht es eine Ärztin der zuständigen staatlichen Invalidenversicherung, die seinen Fall 2013 überprüft. In ihrem Gutachten attestiert sie Herrn O. vollständige Arbeitsfähigkeit. Als Beweis werden unter anderem verdeckte Überwachungen ins Feld geführt. Das Videomaterial zeige Herrn O. auf Spaziergängen und im Supermarktcafé, wobei auch beobachtet wurde, dass er „diskutiert, gelacht oder gestikuliert“ habe. Herrn O. wird die Rente gestrichen. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich weiter, denn Herr O. kann sich jetzt sicher sein, wieder verfolgt zu werden. Und: Die Versicherung verklagt Herrn O. wegen unrechtmäßigen Bezugs von Leistungen. 

Schließlich übernimmt der Anwalt Philip Stolkin seinen Fall, der zurzeit vor dem Schweizer Bundesgericht verhandelt wird. Stolkin hat einiges damit zu tun, dass heute über das Gesetz, das die Arbeit der Sozialdetektive endgültig legalisieren soll, diskutiert wird. Er hat einen ähnlich gelagerten Fall bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht und dort 2016 recht bekommen: Die Überwachung seiner damaligen Klientin durch ihre Unfallversicherung sei eine unzulässige Verletzung der Privatsphäre gewesen, sagten die Straßburger Richter; sie entbehre einer Rechtsgrundlage. Seither erarbeitete das Parlament im Eilverfahren ebenjene Rechtsgrundlage. Das Gesetz wurde im März von der Bundesversammlung beschlossen und untersteht noch dem fakultativen Referendum, dessen Frist am 5. Juli 2018 abläuft.

Wie lässt sich überprüfen, ob ein Verdacht tatsächlich begründet ist?

Mit dem Gesetz gebe es aber mehrere Probleme, sagt Stolkin. Erstens könne es nicht sein, dass Privatdetektiven mehr Kompetenzen als den Strafbehörden eingeräumt würden. Bild- und Tonaufnahmen können die Behörden im Gegensatz zu den Detektiven im Regelfall nämlich nur im öffentlichen Raum machen.  

Damit verletze es – zweitens – die Privatsphäre: Observieren dürften die Detektive frei einsehbare Orte – es wäre also auch zulässig, von der Straße aus, etwa mit einer Drohne, in eine Wohnung hineinzufilmen. Die Überwachung privater Räume sei laut Strafprozessordnung aber in diesen Fällen verboten. Drittens hätten solche Bestimmungen nichts im allgemeinen Teil des Sozialversicherungsgesetzes zu suchen. Versicherungsmissbrauch sei ein Straftatbestand, der durch die Strafbehörden abgeklärt gehöre. Zudem könne kaum überprüft werden, ob ein Verdacht tatsächlich begründet und eine Überwachung verhältnismäßig sei.

Das neue Gesetz schien beschlossene Sache, es hatte genügend politische Befürworter. Bis eine kleine Gruppe von Privatleuten – darunter auch Herr O.s Anwalt Stolkin und die Autorin Sibylle Berg – beschloss, ein Referendum anzustoßen, damit das Schweizer Stimmvolk an der Urne über das Gesetz befinden kann. Technisch ist das möglich, praktisch schwierig: In 100 Tagen müssen 50.000 Unterschriften zusammenkommen – ein Unterfangen, für das üblicherweise vor allem Parteien oder Verbände genug Finanzen und Reichweite haben. Ein eiligst lanciertes Crowdfunding aber zeigte der Gruppe, dass sie mit ihrer Empörung nicht allein ist. 

Schon einen Monat vor Frist sind die benötigten 50.000 Unterschriften beisammen

Stolkin befürchtet, dass mit dem neuen Gesetz auch die anderen Versicherungen künftig mehr überwachen werden, auch wenn die Befürworter beteuern, dass es zurückhaltend angewendet werden soll. „Überall, wo es für die Versicherungen teuer wird, sei es bei langer Arbeitsunfähigkeit oder einer teuren Krebstherapie, wird es für sie interessant, einen Leistungsanspruch in Abrede zu stellen.“ Schon einen Monat vor Sammelfrist hat das Referendumskomitee mehr als die erforderlichen Unterschriften gesammelt. 

 

Herr O. verlässt die Wohnung heute nicht mehr gerne. Nur für das Nötigste gehe er noch raus, er vermeide es auch, sich zu nahe am Fenster aufzuhalten, jederzeit könnte er beobachtet werden, fürchtet er. Er lebt nun von der Sozialhilfe seiner Wohngemeinde, dem letzten Glied im Schweizer Sozialstaat. Anwalt Stolkin hofft derweil, dass spätestens der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Herrn O.s Version der Geschichte Glauben schenken wird. Und dass der die geplante Gesetzesänderung früher oder später verurteilen wird, sollte sie Realität werden.

Illustration: Bureau Chateau, Jannis Pätzold

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