Knie pressen sich gegen Kinfuns Schenkel, die Kante einer Mappe rammt sich in seine Rippen. Die Tozai-S-Bahn ist voll, aber noch immer drücken Leute rein. Ganz still. Viele haben Kopfhörer aufgesetzt, einige versuchen zu lesen. Wer einen Sitzplatz hat, tut, als schlafe er.

Jeden Morgen das Gleiche. Eingeklemmt zwischen fremden Menschen steckt Kinfun, 27-jähriger Doktor der Mathematik, eine halbe Stunde im Zug der Tozai-Linie. Dann steigt er um, fährt weitere zwanzig Minuten mit der Hibiya-U-Bahn. Abends geht es den gleichen Weg zurück.

In Groß-Tokio leben mehr Menschen als in Kanada, zehnmal so viele wie in Berlin. Die Stadt selbst hat zwölf Millionen Einwohner; die Agglomeration, zu der vier weitere Millionenstädte gehören, 35 Millionen. Damit ist Tokio die größte Megacity der Welt. Von Ost nach West dehnt sich das Häusermeer über fast 100 Kilometer aus. Ein Zentrum hat dieses Häusermeer nicht, sondern mehrere, sehr verschiedene: die hochnäsige Ginza, die teuerste Einkaufsstraße der Welt; das schnelle Shinjuku, wo alles käuflich ist; das junge schnippische Shibuya; das ein wenig altbackene Viertel um Ueno mit den großen Museen; Ikebukuro, eher provinziell und proletarisch; Roppongi, das Viertel des neuen Geldes; und Shinagawa, eine Absteige des globalen Dorfes. Dazwischen erstreckt sich ein Meer kleiner Einfamilienhäuser mit winzigen Gärten und Blocks mit engen Wohnungen. Gemeinsam ist allen Stadtteilen, dass ihre Bewohner sie fast kleinlich sauber halten. 

Die Tozai-Linie, mit der Kinfun zur Arbeit fährt, führt vom östlichen Vorort Funabashi, einer Stadt mit 580 000 Einwohnern, unter Tokio hindurch nach Westen: Außerhalb der Stadt ist sie eine S-Bahn, innerhalb gehört sie zum U-Bahn-Netz. Die Tozai-Linie ist morgens zwischen 7.50 Uhr und 8.50 Uhr zu 197 Prozent ausgelastet; es fahren also doppelt so viele Passagiere mit den Zügen wie eigentlich maximal vorgesehen. Die Tokioter Metro transportiert täglich fast sechs Millionen Menschen; dazu kommen die Passagiere von Privat- und S-Bahnen.

Zur Hauptverkehrszeit schubsen und quetschen sich die Menschen durch die Masse, aber niemand schimpft. Einige Bahnhöfe sind Shopping-Center, in denen man erst nach Passieren der Ticketschranke einkaufen kann. In Shinjuku, dem verkehrsreichsten Bahnhof der Welt, an dem Linien vier verschiedener Bahngesellschaften aufeinandertreffen, steigen täglich bis zu vier Millionen Passagiere ein, aus oder um. Dennoch ist der Bahnhof blitzsauber, es liegen keine Papierchen am Boden, keine Essensreste, keine Zigarettenkippen. Und das, obwohl es seit den Anschlägen vom 11. September 2001 aus Sicherheitsgründen kaum mehr Mülleimer gibt. Die Japaner haben gelernt, ihren Abfall dorthin mitzunehmen, wo sie ihn geordnet entsorgen können und getrennt: in brennbar/abbaubar, unbrennbar, Flaschen, Dosen, Zeitungen. Oft nehmen die Tokioter ihren Müll einfach wieder nach Hause. Groß-Tokio produziert jährlich 15 Millionen Tonnen Müll. Der wird verbrannt oder zu künstlichen Inseln in der Bucht von Tokio aufgeschüttet. 

Japan ist die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, Tokio ihr Zentrum. Dennoch ist die Luftbelastung mit Feinstaub gering oder moderat; nur ein Drittel aller Fahrten im Großraum Tokio geschehen mit Pkw, in Tokio selbst gar nur ein Fünftel. 15 Milliarden Bewegungen jährlich geschehen mit dem öffentlichen Verkehr, über anderthalbmal so viele wie in den USA im ganzen Land. Mit S- und U-Bahnen kommt man in Tokio immer schneller voran als mit dem Auto. 

Japans Bevölkerung schrumpft, in den Bergen und an der Küste verrotten verlassene Dörfer, in anderen leben nur noch alte Leute. Tokio dagegen wächst, die jungen Japaner wollen in die Metropole. Nicht nur, weil sie auf dem Land keine Arbeit finden. Auch weil es dort langweilig sei und die Freunde ebenfalls nach Tokio gehen. Auch Kinfun ist zugewandert: als Doktorand aus Hongkong. Zu Beginn gehörte ein Zimmer im Studentenwohnheim zum Stipendium. Von dort war die Fahrt ins Forschungsinstitut erträglicher. Die Ringlinie der S-Bahn, mit der er zur Arbeit fuhr, hat ihre Wagen jüngst verbreitert, in der Hauptverkehrszeit bleiben die Sitzbänke hochgeklappt. Das verschafft den 3,6 Millionen Fahrgästen täglich etwas Luft. Kinfun wagt in den vollen Zügen ohnehin nicht, sich hinzusetzen. „Obwohl niemand etwas sagt“, fühle er die Missbilligung der Obasan und Ojisan, Tantchen und Onkel. „So geht es fast allen Jungen.“

Wenn Kinfun abends nach wieder einer Stunde Bahnfahrt in sein winziges Studio zurückkehrt, isst er zuvor am Bahnhof eine Schale Nudeln, kauft sich eine Box Sushi oder ein Fertiggericht, manchmal kocht er auch. „Für mehr bin ich zu müde“, sagt er. Von den spannenden Seiten der Megacity hat er nichts, er geht nicht ins Kino, zu Konzerten, ins Museum oder zu Sportveranstaltungen. Erst recht nicht in die Kneipe. Die Wege sind einfach zu weit. „Hätte ich mehr Zeit, ich würde sie zu Hause verbringen“, so Kinfun. „Mit Lesen und Chatten.“ Treffen kann er seine Freunde nur am Wochenende, zum Beispiel zum Karaoke. Werktags bleibt er per SMS und übers Internet mit ihnen in Kontakt. Dennoch, sagt er, lebe er gern in Tokio. „Ich habe einen tollen Job. Im akademischen Leben sind die Hierarchien nicht so starr wie im Business.“ Und in Tokio funktioniere alles so gut, „die Umwelt ist gesund, die Stadt sauber, auch die Luft“. Das Leben sei angenehmer, wenn die Leute wie in Tokio die Regeln befolgten und ordentlich seien. „Außerdem ist Tokio sicher, du musst keine Angst haben, dass jemand dir den Geldbeutel klaut.“

Umgekehrt hat er ein schlechtes Gewissen, wenn er den Müll einmal nicht korrekt sortiert. Papierchen wegzuwerfen wage er schon gar nicht. Der Einwand, Sauberkeit und gute Luft seien Qualitäten, die man von einer Metropole dieser Größe nicht erwarte, überrascht ihn. Darüber hat er noch nie nachgedacht. Im Westen sehen viele im Recht auf Unordnung eine Freiheit. „So ist es ja nicht“, sagt Kinfun. Aber wenn sich die Menschen jeden Tag im Zug schubsen und stoßen oder sogar boxen, ist das auch nicht ordentlich. „Alle wissen, der Einzelne kann dafür nichts“, wehrt Kinfun ab. „Ich glaube, das Stoßen gehört längst zu den Regeln.“

Auch Natsuko Mamiya kommt mit dem Zug aus einem Vorort, allerdings später, wenn die Bahn nicht mehr so voll ist. Weil immer wieder Frauen im Gedränge belästigt werden, gibt es in den S-Bahn-Zügen in den Spitzenzeiten Wagen nur für Frauen. Mamy, wie sich die 27-jährige Natsuko rufen lässt, wohnt bei ihren Eltern. Ihre Tage verbringt sie auf den Straßen von Tokio. Mit ihrer Kamera streunt sie durch den Modebezirk Omotesando, wo der internationale Architekten-Jetset den großen Marken wie Prada, Tod’s, Louis Vuitton, Dior oder Armani Modetempel hingestellt hat. Auch in Harajuku hängt sie rum; und in Shibuya, dem Zentrum der Jugendmode. Das ist ihr Job. Tokio ist eine wichtige Modemetropole, hier werden Trends gemacht. Mamy wird von Experten als Trendsetterin gesehen. Mamy sucht Leute, die sie „total oshare“ findet. „Oshare“ steht für hübsch, süß, cool, modisch. Oder, wie Mamy sagt: „Die Kombination muss stimmen. Nur wenn Persönlichkeit, Gefühle und Kleider zusammengehen, ist jemand oshare.“ Oshare könne man in Markenkleidern sein oder in Klamotten aus dem Secondhandshop. Mamy hält Ausschau nach Leuten in Straßenmode, die sie überzeugen. Findet sie jemanden total oshare, spricht sie die Person an. Und macht auf der Stelle ihre Fotos. Die Straße ist ihr Studio; sauber genug ist sie allemal. „Wenn ich zögere, dann sind die Leute meist nicht gut genug.“ Fünf Tage pro Woche wandert sie fünf Stunden in den Straßen herum. Manchmal, ohne ein einziges Bild zu machen. „Weil niemand genügend oshare war.“

Die Mode, die sie fotografiert, ist eher verrückt, manchmal punkig, oft schräg, selten auch beinahe unauffällig. Und stets auf ihre Weise perfekt. Fast nur junge Leute. Das sei keine Absicht: „Aber der Anteil Älterer, die in Tokio gut angezogen sind, ist extrem gering.“ Wenn ihre Generation älter werde, dürfte sich das ändern. Von jenen, die sich für viel Geld von Kopf bis Fuß bei Armani, Gucci, Versace, Dior und den andern einkleiden, hält Mamy wenig: „Das sind Leute, die sich kaum für Mode interessieren, aber doch gut aussehen wollen. Sie kaufen Brands, dann können sie nicht viel falsch machen.“

Mamy arbeitet für Fruits, Tune und Street, Modemagazine fast ohne Text. Neben den jungen Leuten, die selber oshare sein wollen, gehören die Modeprofis zu ihren wichtigsten Lesern. Einige Abgebildete sind selber Designer, andere wollen es werden. Die Profis holen sich hier ihre Ideen. „Es ist schon vorgekommen, dass ich einen Mann fotografiert habe, und plötzlich sah man viele identisch gekleidete Männer auf der Straße.“ 

Tokio ist groß genug für viele Welten, die sich gegenseitig kaum wahrnehmen. Kinfun, modisch gekleidet, hat noch nie von Mamys Szene gehört, internationale Modeschöpfer indes beobachten sie genau.Von der Jazzszene über Computernerds, Film-Geeks, Auto-fans – sie treffen sich mit fantastisch umgebauten Modellen jeweils samstagnachts unter einer Autobahnbrücke auf einer künstlichen Insel vor Yokohama – Karaokesänger und Elvis-Presley-Imitatoren, aber auch Menschen, die Naziramsch sammeln, gibt es Hunderte sogenannter otaku, informeller Fan-„Gemeinden“, die sich ihren Liebhabereien mit einer Radikalität widmen, wie man sie in Mitteleuropa kaum kennt. Die Wege dieser Gemeinden kreuzen sich höchstens in der S- und U-Bahn. Und beim Einkaufen.

Die Japaner waren immer sauber: Als der schwedische Arzt Carl Peter Thunberg vor gut 200 Jahren von Nagasaki ins heutige Tokio reiste, wunderte er sich, die Japaner würden täglich baden, die Städte seien sauber, es stinke nicht: Anders als in Europa spülte man hier in den Großstädten die menschlichen Exkremente nicht in eine Kanalisation, man sammelte sie täglich ein, wie den Hausmüll. Das tägliche Bad ist bis heute Pflicht, wie in Deutschland das Zähneputzen. Selbst viele Obdachlose rasieren sich täglich, sind sauber gekleidet und trennen ihren Müll. Auch unter ihnen herrscht ein Gruppendruck zur Ordentlichkeit. In der Früh packen sie ihre Habe in blaue Plastikplanen säuberlich zu-sammen, verschnüren sie zu riesigen Paketen. Dieser Hausrat steht tagsüber am Rande vieler Parks. 

Ausländer wie Kinfun, die in Tokio leben, nehmen die Reinlichkeit bald an. Genau wie die Gewohnheit, sich abzugrenzen. Japaner schaffen für alles einen Rahmen. Und ignorieren, was nicht in diese Rahmen passt. 

Bis 1991 wuchs Japans Wirtschaft so rasch wie heute jene Chinas, dann kam sie ins Stottern. Und hat sich davon bis heute nicht erholt. Die Lasten dieser Krise trägt die Provinz; und mehr noch die Jungen. Früher fand fast jeder Schul- oder Uni-Abgänger eine feste Stelle. Die behielt man auch, meist fürs Leben. Heute jobbt ein Drittel aller jungen Leute als sogenannte arubatio, das Wort leitet sich vom deutschen „Arbeiter“ ab. Arubatio sind unterbezahlte Teilzeitarbeiter, denen keine Sozialleistungen oder Jobsicherheit gewährt werden. Mit den arubatio verfügen die Firmen über eine Manövriermasse, die ihnen rasches Reagieren auf veränderte Bedingungen erlaubt. Nicht nur Supermärkte, 24-Stunden-Läden, Hotels, Restaurants, Nachtbars, Sexclubs und Baufirmen heuern arubatio an, auch große, weltbekannte Konzerne.

Manch junge Japaner sperren sich gegen die starren Konventionen ihrer Gesellschaft. Sie verweigern den Überstunden- und Krawattenzwang, scheuen die strikte Hackordnung und die Pflicht-Sauftouren mit dem Chef. Das Leben, finden sie, sollte mehr sein als Arbeit, Arbeitsweg und Schlaf. Sie wollen „frei“ sein. Und nennen sich deshalb freeter, nach dem Englischen „free“. Ihre neue Freiheit ist freilich eine Selbsttäuschung. Sie zahlen einen hohen Preis dafür, wie der 25-jährige Tokioter Shunsuke allmählich merkt. 

„Ich halte freeter nicht für ein Schimpfwort, meine Eltern schon“, sagt er. „Überhaupt die Alten. Wenn einer in der S-Bahn nicht aufsteht, ist er ein freeter.“ Er hatte die Nase voll von der Schule, verließ das teure Privatcollege, für das sein Vater seit dem Kindergarten bezahlt hatte. Entsprechend sauer reagierte dieser. Ein Jahr fuhr Shunsuke Lunchboxen aus, täglich von sieben bis drei auf den verstopften Straßen Tokios. „Fürchterlich.“ Abends kochte er in einer Kneipe noch Spaghetti. Dann ging er nach New York, wo er als Sushi-Koch ohne Arbeitsbewilligung arbeitete. Seine japanische Nationalität genügte als Qualifikation. Seit er aus Amerika zurück ist, jobbt er bei einer Neubaureinigung. Und abends wieder in einer Kneipe. Damit kommt er grade so durch. Renten- und Sozialbeiträge zahlt er genauso wenig wie eine Krankenversicherung, Steuern sowieso nicht.

Für Tokios Konsumangebote hat Shunsuke kein Geld. Auch keine Zeit. Zwischen Baureinigung und Kneipe kommt er gerade mal zum Musikhören. Gleichwohl sagt er, „für den Moment“ sei er zufrieden mit seinem freeter-Dasein. Aber er denkt immer öfter, es wäre schon gut, noch eine Schule zu machen, zum Beispiel Architekt zu werden. „Vielleicht brauche ich bloß etwas länger“, sagt er, „um erwachsen zu werden.“ 

Die zwanghafte Korrektheit der Japaner stört Shunsuke. „Wenn hier mehr Ausländer leben würden, verstünden die Japaner, dass kein anderes Land so starr ist. Hier gibt es Regeln für alles.Warum darf man zum Beispiel in der S-Bahn nicht telefonieren? Japan ist eine Zwangsjacke.“ An die Regeln hält sich Shunsuke trotzdem auch. Seinen Müll sortiert er nach insgesamt acht Kategorien.