Thema – Erinnern

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Schwein gehabt

Im thüringischen Neumark konnte sich die Landwirtschaft nach der Wiedervereinigung neu aufstellen. Den Preis dafür zahlt der Ort noch heute – finden einige. Eine Nahaufnahme

Anke Necke

Die Hauptstraße säumen frisch gepflanzte Bäume, der Marktplatz hat seit kurzem einen neuen Zaun. Davor sitzt Anke Necke auf einer Bank, hinter ihr der neue Spielplatz mit Wippe. Bald soll er vergrößert werden. Necke ist 32 Jahre alt und die Bürgermeisterin des 500-Einwohner-Ortes Neumark in der Nähe von Weimar. Hier ist sie aufgewachsen, hierher kehrte sie nach einem längeren Auslandsaufenthalt zurück.

Necke, eine energische Frau mit dunklen Haaren, redet gerne über das, was sie erreicht hat, und das, was sie noch vorhat. Und über das rege Vereinsleben und die Vorzüge des Dorflebens. Und dann sagt sie, was man hier so oft hört: „Wie früher.“ Welches „früher“ ist gemeint?

Die 90er-Jahre eher nicht. Damals geriet das Dorfleben aus den Fugen, von den blühenden Landschaften, die Bundeskanzler Kohl versprochen hatte, war nichts zu sehen. Der Konsum-Supermarkt, der Gasthof, die Post, der Bäcker, der Fleischer und der Arzt mit der bunten Holzspieleisenbahn im Wartezimmer, sie alle verschwanden.

Die Zeit nach der Wende war eine Belastungsprobe für den Osten. Zahlreiche Betriebe mussten schließen, viele Menschen wurden arbeitslos oder zogen weg. Das hat man auch in Neumark nicht vergessen. Die Gegend war ein Muster für die DDR-Landwirtschaft, mehrere Großbetriebe, darunter auch eine der größten DDR-Schweinemasten, hatten hier ihren Sitz.

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Schweinezucht in Neumark, Thüringen

Diese Schweinezucht soll bald die größte Thüringens sein – neben den 500 Einwohnern würden dann 60.000 Schweine in Neumark leben

Mehrere Millionen Menschen verloren in Ostdeutschland nach der Wende ihre Arbeitsplätze im Zuge einer rasanten Deindustrialisierung. Allein 4.000 der 14.000 von der Treuhand verwalteten Betriebe wurden bis 1994 aufgrund mangelnder Rentabilität geschlossen. Auch die DDR-Landwirtschaft stand unter dem Druck, sich an die Marktwirtschaft anzupassen. Nicht selten hieß das: Betriebe schließen, Menschen entlassen. Vier von fünf Arbeitern aus der DDR-Landwirtschaft wurden arbeitslos. Ein großer Rückschlag: In der DDR waren elf Prozent aller Arbeiter in der Landwirtschaft tätig, in der BRD waren nur vier Prozent.

Nach der Wende befanden sich die Betriebe nicht mehr in einem Land mit Mauer, sondern auf dem Weltmarkt. Sie mussten unter neuen Bedingungen ihre Leistungsfähigkeit beweisen. Entweder überführte man sie in eine neue Rechtsform: Aus zwei DDR-Genossenschaften entstand 1991 die Erzeuger-Genossenschaft Neumark. Über hundert Landwirte sind Teil des Betriebs, der heute wieder zu einem der größten der Region zählt.

Für Investoren besonders interessant: DDR-Großbetriebe

Oder sie kamen zur Treuhand. Die verwaltete und veräußerte das Vermögen der DDR, darunter auch die ehemalig volkseigene Industrie. Im Vereinigungsprozess wurde beschlossen, die DDR-Großbetriebe nicht in kleine Gehöfte zu zerschlagen. Das machte sie lukrativ, auch für Investoren aus dem Ausland, da die Anlagen dank Ausnahmeregelungen größer (und, wie Tierschützer sagen: tierunfreundlicher und umweltschädlicher) sein durften als andere Betriebe. So ging es auch der Schweinezuchtanlage in Neumark.

Einige Hundert Meter hinter Neumarks zentraler Straßenkreuzung liegt die Schweinezucht: ein paar fensterlose Flachbauten, von Zäunen umgeben. Ein Schild verbietet das Betreten und verweist auf die Kameraüberwachung. Nach der Treuhand und mehreren Besitzerwechseln gehört die Anlage heute zur Van Asten Group, einem niederländischen Unternehmen mit rund 60 Millionen Euro Jahresumsatz und fünf Standorten in Ostdeutschland.

Schweinetransport

Alltag in Neumark: der Anblick von Schweinetransportern – und der Geruch der Anlage

Es ist kein Zufall, dass sich niederländische Tierzüchter für Betriebe in der früheren DDR entscheiden. Während in den Niederlanden strengere Tier- und Umweltschutzauflagen gelten, winken hier Subventionen und Bestandsschutz für die DDR-Altanlagen. Das begünstigt Großbetriebe mit Tausenden Tieren, die andernorts unmöglich wären. In Nordrhein-Westfalen, wo es auch viel Schweinehaltung gibt, sind es deutlich weniger Tiere pro Betrieb, oft nur ein paar Hundert.

Wenn der Wind ungünstig steht, riecht man die hinter einem Hügel verborgene Anlage, bevor man sie sieht. Für die Neumarker ist der Anblick der Schweine-Lkws, die durch den Ort rollen, Alltag. Die Anlage hat eine Kapazität von 42.000 Schweinen – noch. Der Betreiber versucht schon lange zu erweitern. Mit rund 60.000 Tieren hätte Neumark dann die größte Schweinezucht Thüringens.

„Ich wehre mich gegen den Ausverkauf einer Landschaft“

Ein erster Versuch scheiterte vor neun Jahren an einem Bürgerentscheid. Nun hat das Unternehmen den nächsten Versuch gestartet und verspricht, die Anlage für den Ort angenehmer zu gestalten, zum Beispiel besonders wirkungsvolle Luftfilter einzubauen. Viele Neumarker begrüßen solche Verbesserungen, im Stadtrat sind die Befürworter mittlerweile in der Mehrheit.

Wirtschaftliche Gründe dürften sie kaum überzeugt haben: Weil der Konzern seinen Sitz nicht in Neumark hat, sind die Steuereinnahmen überschaubar. Bei den Arbeitsplätzen ist es ähnlich. Der örtliche Maler und der Elektriker sind für van Asten tätig. Sonst sind auf dem Gelände um die 30 EU-Ausländer in Baracken untergebracht, vor allem aus Polen und Rumänien.

Aber Bürgermeisterin Anke Necke und andere Befürworter sind der Meinung, man müsse pragmatisch sein, und werben für einen Kompromiss mit der Industrie. Als grünes Naherholungsidyll, wie so manche Gegenden in Mecklenburg-Vorpommern, lässt sich Neumark ohnehin nicht verkaufen. Zwischen den Silotürmen der Erzeuger-Genossenschaft, der Schweinezucht, den Windrädern, die auf dem Hügel rotieren, und der ICE-Trasse, die Berlin mit München verbindet, gibt es keinen Platz für unberührte Natur.

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Beatrice Sauerbrey

Abwarten und Teetrinken? Keine Option für Beatrice Sauerbrey, die die Anlage mit einer Bürgerinitiative bekämpft

„Ich wehre mich gegen den Ausverkauf einer Landschaft“, sagt hingegen Beatrice Sauerbrey. Als Anführerin einer Bürgerinitiative gegen die Erweiterung der Schweinezucht trat sie zur Bürgermeisterwahl an und unterlag gegen Anke Necke. Sauerbrey formuliert mit Bedacht, kommt die Rede aber auf die Schweinezucht, spürt man ihre Entschiedenheit. Ihre Argumente gegen van Asten: Die sinkende Lebensqualität in Neumark und der Tier- und Umweltschutz. Die Tierrechtsorganisation PETA erstattete 2017 Anzeige gegen das Unternehmen – mit einem Video aus der Neumarker Anlage von eingepferchten, verletzten Tieren. Zwei Mal floss nach einem Zwischenfall im Betrieb Gülle in den örtlichen Bach.

Sauerbrey und Necke sind beide in Neumark aufgewachsen, lebten zeitweise im Ausland und kehrten in ihren Heimatort zurück. Der hat die Nachwendezeit weit besser überstanden als andere Orte in den neuen Bundesländern. Junge Menschen wollen hier leben, sie bauen Häuser, gründen Familien. Die als Altlasten verspottete Industrie aus DDR-Zeiten konnte sich neu aufstellen. Aber die Frage, wie weit man den ökonomischen Interessen Einzelner entgegenkommen soll, entzweit die Bevölkerung. Es ist ein Konflikt, der 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch schwelt.

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