Die Kamera erhebt sich langsam über eine trostlose Sozialbau-Silhouette. Die Schwarz-Weiß-Bilder haben eine flaue Qualität, nichts erinnert an die krispe Ästhetik, mit der das Arthouse-Kino gelegentlich seinen künstlerischen Mehrwert unterstreicht. Burhan Qurbanis zweiter Spielfilm „Wir sind jung. Wir sind stark“ weist eher Parallelen zu einem anderen Klassiker des europäischen Autorenfilms auf: Mathieu Kassovitz’ „Hass“ aus dem Jahr 1995. Der Film über eine Gruppe Jugendlicher in den Pariser Banlieues nahm die Unzufriedenheit und aufgeheizte Stimmung in den französischen Vorstädten, die sich im November 2005 in landesweiten Unruhen entluden, um Jahre vorweg. „Wir sind jung. Wir sind stark“, der die Pogrome gegen ein Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen fiktional aufarbeitet, beschreibt dieselbe desolate Plattenbau-Atmosphäre, dieselbe Hoffnungslosigkeit, die schließlich in Gewalt eskaliert.
Es ist das Jahr 1992. Die Bundesregierung hatte den Bürgern der ehemaligen DDR blühende Landschaften versprochen – stattdessen ist die Arbeitslosigkeit so hoch wie nie zuvor. Stefan, Robbie, Jennie, Goldhahn und Ramona sind keine sozial benachteiligten Jugendlichen, denen der Platz im wiedervereinigten Deutschland streitig gemacht wird. Aber sie fühlen sich im Stich gelassen. „Ich brauche keinen Traum, ich will Sicherheit“, beschreibt Ramona (Gro Swantje Kohlhof) einmal ihre Sorgen in die Kamera eines Reporters. Die Freunde haben einen persönlichen Verlust zu verarbeiten: Philipp (Enno Trebs), der sich einer Gruppe Neonazis angeschlossen hatte, ist aus dem Fenster seiner Plattenbauwohnung gesprungen. No future!
Sein Tod fungiert in „Wir sind jung. Wir sind stark“ als Vorbote der Ereignisse, die bereits in der Luft liegen. Seit Tagen steht die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber, das „Sonnenblumenhaus“, unter der Belagerung eines pöbelnden Mobs. Die Unruhen drohen auf das benachbarte Wohnhaus, in dem viele vietnamesische Vertragsarbeiter aus der ehemaligen DDR leben, überzugreifen. Ziellos ziehen Stefan (Jonas Nay), dessen Vater als SPD-Lokalpolitiker um Schadensbegrenzung bemüht ist, der unberechenbare Robbie (Joel Basman) und ihre Freunde durch die Straßen. Doch die alarmierenden Fernsehberichte über die zunehmend aggressive Situation in der Sozialbausiedlung, wo breite Teile der Bevölkerung den Randalierern zujubeln, lockt auch die frustrierten Jugendlichen an. „Scheiß auf früher“, ruft Robbie seinen Freunden zu. „Wir machen einfach alles kaputt!“
Burhan Qurbani liefert mit „Wir sind jung. Wir sind stark“ einen starken Nachgedanken zu den deutsch-deutschen Wiedervereinigungsfeierlichkeiten, ein Kontrastprogramm zum offiziellen Berliner Lichtgrenzen-Event im vergangenen Herbst. Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen zwischen dem 22. und 26. August 1992 bedeuteten eine Zäsur in der noch jungen Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands, zahlreiche Beobachter, vor allem ausländischer Medien, fühlten sich damals mit Entsetzen an Pogrome im nationalsozialistischen Deutschland erinnert.
Qurbani verdichtet die damaligen Ereignisse auf einen einzigen Tag, den 24. August. Regelmäßige Einblendungen der Uhrzeit suggerieren einen Thriller, aber solche formal überflüssigen Details täuschen nicht darüber hinweg, dass es dem Regisseur um ein Deutschlandbild geht. Im „Sonnenblumenhaus“ sitzen Lien (Trang Le Hong) und ihr Bruder Thao (Mai Duong Kieu) und reden sich ein, dass die Überfälle lediglich den Asylbewerbern gelten: „Wenn die Zigeuner weg sind, ist auch wieder Ruhe.“ An Solidarität ist nicht zu denken. Auch die Politik verkennt die Lage: „Ich glaube nicht, dass die Rostocker ausländerfeindlich sind. Es gibt ein paar Leute, die sind unzufrieden. Aber man kann nicht alle über einen Kamm scheren“, sagt im Film ein SPD-Politiker.
Von „den Rostockern“, die damals den Molotowcocktails werfenden Randalierern zujubelten, waren tatsächlich die wenigsten Neonazis (von denen reisten, wie später bekannt wurde, viele aus Westdeutschland an), doch genau das war das Erschreckende, wie „Wir sind jung. Wir sind stark“ noch einmal in Erinnerung ruft. Die kritische Masse, die an den Ausschreitungen durch Zustimmung partizipierte, kam aus der „Mitte der Gesellschaft“, wie es heute auch wieder über die Pegida-Demonstrationen heißt: normale Bürger, die einer diffusen Angst vor Benachteiligung und „Überfremdung“ Ausdruck verleihen.
Die, die im August 1992 vor dem „Sonnenblumenhaus“ standen, selbst als die Polizei die Asylbewerber längst an einen anderen Ort verlegt hatte, wollten etwas „kaputt machen“: den Sozialstaat, der ihrer Ansicht nach immer mehr Flüchtlinge aufnahm, obwohl er nicht einmal den eigenen Bürgern Arbeit geben konnte. Die Wut und die Ressentiments richten sich immer zuerst gegen die Schwächsten im System.
„Ich bin normal“, antwortet Stefan einmal auf die Frage, ob er links oder rechts sei. Dass er, der „Normale“, am Ende den ersten Molotowcocktail werfen wird, ist eine etwas zu plakative dramaturgische Entscheidung von Burhan Qurbani in „Wir sind jung. Wir sind stark“. Und nicht die einzige. Auch der Kunstgriff, von Schwarz-Weiß zu Farbe zu wechseln, als die Ausschreitungen beginnen, die Gewalt plötzlich mit treibender elektronischer Musik zu unterlegen und mit der Handkamera eine höhere Dynamik zu verleihen, ist fragwürdig.
Doch insgesamt gelingt dem Regisseur ein überzeugendes, durch die unterschiedlichen Perspektiven vielschichtiges Stimmungsbild jener Augusttage 1992, das durch die Pegida-Bewegung gerade wieder unheimliche Aktualität erlangt. Dass die Geschichte in Zyklen verlaufe, erklärt Stefans Großvater seinem Sohn, dem Politiker, sehr einleuchtend. „Mein Vater hat gegen die Demokraten gekämpft, weil er Faschist war. Ich hab gegen meinen Vater gekämpft, weil ich Kommunist bin. Dann hast du gegen mich gekämpft, weil du Demokrat sein willst. Und jetzt frag ich mich, was Stefan gerade tut.“