Die zweite Generalprüfung. Es ist Samstagnachmittag, Li Jinghang hat heute seine Ergebnisse bekommen: 454 von 630 möglichen Punkten in den Fächern Chinesisch, Mathe, Englisch und Physik. „Mein Ziel sind mindestens 500“, sagt der Zwölftklässler, 18 Jahre alt. Während er versucht, ein tapferes Gesicht zu machen, verkriecht sich sein schlaksiger Körper noch weiter in die Schuluniform, ein unförmiges weißes Ensemble aus Trainingsjacke und Jogginghose. So bleibt er im Klassenzimmer sitzen und wartet auf seine Eltern. Die schwirren gerade irgendwo draußen vor dem Lehrerzimmer herum, inmitten einer Traube aufgescheuchter Mütter und Väter. Gesichter wie auf einer Intensivstation, verzweifelte Blicke, bohrende Fragen an die Klassenlehrerin Frau Zheng: „Für welche Uni reicht das Ergebnis?“, „Was ist da passiert?“, „Wie viel ist in den nächsten vier Wochen noch zu machen?“ Vier Wochen noch bis zum „Hohen Test“, das ist die wörtliche Übersetzung von Gao kao, wie das chinesische Zentralabitur heißt. Seit der Oberstufe dreht sich Jinghangs Leben um nichts anderes mehr. Na ja, wobei das nicht stimmt, sagt er. „Im Grunde haben meine Eltern schon in der ersten Klasse ständig davon geredet.“

Das Weiyu-Internat ist eine der besten Mittelschulen Schanghais. Wenn Elterntag ist wie heute, parken vor dem meterhohen Gittertor blitzblank geputzte Audis und VWs, auf einem Autoheck klebt der Sticker „Yale University“. Wer hier zur Schule geht, will später nicht irgendeine Uni besuchen, sondern die besten der Welt. Das erfordert eiserne Disziplin: 6.15 Uhr aufstehen, Radionachrichten hören beim Zähneputzen. 6.30 Uhr Morgengymnastik. 6.50 Uhr Frühstück in der Schulkantine. 7.15 Uhr Gedichte auswendig lernen. 7.45 Uhr Schuldurchsagen. 8.00 Uhr Unterricht. Der geht bis 17.15 Uhr, danach machen die Schüler weiter Hausaufgaben, erst im Klassenraum, dann auf ihren Internatszimmern. Wenn um 23.00 Uhr das Licht ausgemacht wird, lernen manche mit der Taschenlampe unter der Decke weiter. An den Holzspinden auf den Gängen sind die Namen der Eliteuniversitäten Fudan, Tsinghua und Beida eingeritzt. Im Klassenzimmer haben Mitschüler Post-its an einen Baum aus Pappe geklebt: „Mit aller Kraft kämpfen. Später nichts bereuen.“ „Meinen Traum leben und auf eine renommierte Uni gehen. Später erfolgreiche Office-Lady werden.“ „Wenn die Eiszeit vorbei ist, kommt der Frühling.“

Jedes Jahr kämpfen in China mehr als neun Millionen Schüler um sechs Millionen Studienplätze. Die Gao-kao-Prüfung findet an zwei Tagen Anfang Juni statt und dauert insgesamt neun Stunden. Nur 0,3 Prozent der Schüler schaffen Bestnoten und werden auf einer Eliteuni zugelassen. Wer mittelmäßig abschneidet, wird auf eine schäbige Provinzuni verdammt und muss fürchten, später als einer von Millionen arbeitslosen Hochschulabsolventen zu enden. Ein berüchtigtes Sprichwort vergleicht das Gao kao mit „Tausenden Soldaten und Zehntausenden Pferden, die versuchen, eine schmale Holzbrücke zu überqueren“.

Manche Schüler lernen mit Sauerstoffmasken, um mehr zu behalten

Auch Zhou Jin macht dieses Jahr Abitur. Die 18-Jährige sitzt in einer Wohnsiedlung im Norden Schanghais zu Hause an ihrem Schreibtisch. Eine kleine Leselampe zeichnet helle Kreise auf die Algebra-Bücher, die aufgeschlagen vor ihr liegen. So richtig motiviert sieht sie nicht aus. „Ich sehe die Prüfung eher entspannt, alle anderen halten mich deshalb für verrückt“, sagt sie. In ihrem jungenhaften Gesicht macht sich ein Grinsen breit. Sie kramt eine Packung Fläschchen heraus, die ihre Mutter ihr letztens mitgebracht hat. „Only Smart Brain Child“ steht auf der Schachtel. Und das Versprechen: Die eitrig-gelbe Flüssigkeit fördere das Gedächtnis und stärke die Konzentration. Die Mutter ist nervös, was auch sonst. Gestern war Jin Karaoke singen bis um ein Uhr nachts. Am Wochenende geht sie ins Kino oder spielt Basketball. Sie interessiert sich für Fotografie und Werbung und schläft aus bis mittags. Mit ihrer Schule, einer der liberaleren der Stadt, ist sie eigentlich ganz glücklich. Es gibt dort keinen Morgenappell, dafür Theater-, Musik- und Garten-AGs. Jin war lange in der Fernseh-AG und drehte Kurzvideos, am Anfang dieses Schuljahres wurde den Abiturienten jedoch verboten, weiter zu den Gruppentreffen zu gehen. Ihr Vater, Angestellter bei einem Stahlunternehmen, sagt: Seine Tochter werde es schon schaffen. „Sie hat ihren eigenen Kopf und ist sehr selbstständig für ihr Alter.“ Das harte Lernpensum macht ihm allerdings Sorgen. „Der Wettbewerb ist viel härter als bei uns damals“, sagt er. Jin geht dreimal die Woche zur Nachhilfe. Die Familie kostet das umgerechnet 250 Euro im Monat, die Hälfte von dem, was der Vater verdient. Aber es helfe ja nichts, sagt er: „Die anderen Familien investieren auch Geld und Mühe. Was soll man da machen?“

Schanghais Abiturienten haben es dabei vergleichsweise gut. Die 23-Millionen-Metropole wurde 2009 internationaler PISA-Sieger. Das allgemeine Bildungsniveau ist hoch, an den Schulen lehren die besten Lehrer des Landes. Wer hier aufgewachsen ist, hat von vornherein bessere Chancen auf gute Prüfungsergebnisse. Schlimmer ist der Konkurrenzkampf in den armen und bevölkerungsreichen Provinzen. Wo es viele Schüler gibt, aber nur wenig gut ausgestattete Schulen, greifen viele zu absurden Mitteln: In diesem Jahr kursierten Fotos im Internet von einer Schulklasse, die sich über einen Tropf Aminosäure in die Venen verabreichen ließ, um effizienter zu lernen. Woanders lernten Schüler mit Sauerstoffmasken. An den Prüfungstagen selbst müssen in vielen Städten die Bauarbeiten unterbrochen werden, und Autofahrer dürfen nicht hupen. Vor manchen Schulen wurden schon Mütter und Väter gesehen, die mit Stöcken zwitschernde Vögel von den Bäumen vertrieben. Wer ist vor der Prüfung mehr gestresst, die Kinder oder die Eltern? Bei dieser Frage muss Zheng Simin, Lehrerin an der Weiyu-Mittelschule, lächeln. Sie erzählt von Eltern, die sich in den letzten Monaten eine Wohnung in der Nähe der Schule mieten, damit sie immer in der Nähe der Kinder sind. In der letzten Woche vor der Prüfung nehmen sich viele sogar Urlaub. Auch für Lehrerin Zheng, die oft von hysterischen Eltern auf dem Handy angerufen wird, bedeutet diese Zeit die Hölle.

Aber die Zeiten ändern sich. Noch vor zehn Jahren habe keiner das System infrage gestellt. „Jetzt gibt es immer mehr Eltern, die sagen: Unser Kind soll sich nicht totlernen. Es muss nicht der oder die Beste sein. Hauptsache, es ist glücklich. Das ist ein Fortschritt.“ Dann wird sie nachdenklich. Für sie als Lehrerin sei es schwer, etwas zu ändern. „Wir sind eine Eliteschule. Wir werden daran gemessen, wie viele unserer Schüler es auf eine Eliteuniversität schaffen. Als Lehrerin bin ich Teil des Systems: Meine Aufgabe ist es, bestmögliche Leistungen herauszuholen.“ Im Privaten aber meine sie: Emotionale Intelligenz sei wichtiger als Noten. Nicht wenige brechen unter dem Prüfungsdruck zusammen. Wenn man „Gao-kao-Stress“ im Internet sucht, kommt man auf die Seite des Psychologen Wu Lisu. Oberstufenschüler aus ganz China suchen online bei ihm Rat, offline empfängt er in einer Praxis im 14. Stock eines Apartmenthochhauses in Schanghai. „Viele leiden unter Schlafstörungen. Unter Depressionen. Sie haben Panikanfälle. Ohnmachtsgefühle. Können keine klaren Gedanken mehr fassen. Oder erkennen ihre eigenen Grenzen nicht, bis sie irgendwann gar nicht mehr lernen können.“ Oft sind es die Eltern, die ihr Kind zur Sprechstunde anmelden. Väter und Mütter, die erkennen, was sie mit ihren überzogenen Erwartungen angerichtet haben, und nun Schuldgefühle haben. Wu bringt den angeschlagenen Abiturienten Entspannungstechniken bei. Er versuche, ihnen klarzumachen: Natürlich ist es gut, wenn man sich Mühe gibt. Aber vom Ergebnis hängt nicht das ganze Leben ab. „Die Eltern begreifen die Message in der Regel schnell und schalten mehrere Gänge runter. Aber bei den Kindern ist es oft zu spät. Nach jahrelanger Indoktrination haben sie den Druck so verinnerlicht, dass sie nicht glauben können, wie sie etwas, worauf sie ihre ganze Schulkarriere lang hingearbeitet haben, plötzlich entspannt sehen sollen. Das zerstört ihr gesamtes Weltbild.“

Über Alternativen zum derzeitigen Prüfungssystem wird in China inzwischen öffentlich debattiert. „Alle sind sich einig: Das Gao kao raubt unseren Schülern Neugier, Kreativität und ihre Kindheit“, schrieb jüngst Jiang Xueqin, stellvertretender Direktor einer der renommiertesten Mittelschulen des Landes. Seit 2008 sinkt die Zahl der Schüler, die sich jährlich zu den Abiturprüfungen anmelden. Eine Minderheit schafft es auf anderem Wege auf die Uni: Einige Elitehochschulen wählen bereits fünf Prozent ihrer Studenten nach eigenen Aufnahmekriterien aus. Andere Glückliche haben reiche Eltern, die sie zum Studieren ins Ausland schicken. „Die Schüler, die es sich leisten können, in den USA zu studieren, lernen gleich auf die amerikanische Hochschulzulassungsprüfung“, sagt Lehrerin Zheng Simin. Das Gao kao können sie sich so sparen.

Schlupflöcher wie diese sind bislang den Überfliegern und Privilegierten vorbehalten. Die Suche nach einer fairen Alternative zum Gao kao, die allen mehr als neun Millionen Abiturienten dieselbe Chance bietet, sei ein nahezu unmögliches Unterfangen, meint Jiang Xueqin. Es sei wünschenswert, Leistung individueller zu bewerten. Doch in einem zu weiten Teilen immer noch armen Land, in dem Korruption sich durch die ganze Gesellschaft zieht, wäre die Gefahr groß, dass am Ende nur diejenigen mit den besten Beziehungen und dem meisten Geld davon profitieren. „Wenn wir heute das Gao kao abschaffen und ganz von vorne anfangen würden, wäre die einzige Lösung, die im heutigen China funktionieren würde: das Gao kao“, schreibt Jiang. Die Abiturientin Zhou Jin wägt ab: „Die Lernerei nervt, aber das Prüfungssystem an sich halte ich für gerecht.“ In ihrer Klasse hängt neben der Tafel ein Kalender, der Countdown zählt bis zum Tag des letzten Tests. Für die Zeit danach hat Jin schon einen Plan. Mit ein paar Freunden will sie eine Rucksackreise durch Südchina machen. Li Jinghang von der Eliteschule Weiyu weiß auch, was er nach den Prüfungen machen wird: ganz viel schlafen.