Pubertät, schwierige Zeit. Hormonschübe, Selbstzweifel, Orientierungslosigkeit, Minderwertigkeitsgefühl. 16 Jahre alt war der Junge, der in der Nacht auf den 23. Januar 2010 durch ein schmales Fenster ins „Haus der Demokratie“ einstieg. Dazugehören wollte er und anerkannt werden von den falschen Freunden. In zwei Räumen der Baracke aus Zeiten der DDR verschüttete er aus einer Plastikflasche ein wenig Benzin, das er im Schuppen seines Vaters abgezapft hatte, und zündete es hastig mit einem Feuerzeug an, bevor er durch dasselbe Fenster türmte, durch das er eingestiegen war. Was dann passierte, liest sich im Urteil des Amtsgerichts Zossen ganz sachlich: „Das Feuer griff sehr schnell auf das gesamte Gebäude über, welches danach vollständig abbrannte.“ Als die Feuerwehr anrückte, traf sie vor dem Haus auf eine Gruppe angetrunkener Neonazis, die sich gegenseitig vor den Flammen fotografierten. Der jugendliche Brandstifter wurde nach wenigen Wochen gefasst – und wegen seiner Jugend und mangelnden Reife freigesprochen. Der ältere Rechtsextremist, der ihn zur Tat angestiftet hatte, lief noch monatelang frei herum, bevor er zu einer Haft von drei Jahren und acht Monaten verurteilt wurde. Zuvor störte er mit seinen Kumpanen nicht nur eine Veranstaltung im Gedenken an die ermordeten Juden der Stadt mit „Lüge! Lüge!“-Rufen. Auf nächtlichen Streifzügen illustrierte er so gut wie jede bekritzelbare Fläche in Zossen mit einem Edding mit Hakenkreuzen. Auf einen Altkleidercontainer schrieb er: „Zossen zeigt Arschgesicht“, das Doppel-s natürlich ganz nach Art der SS.

Das war direkt auf Jörg Wanke gemünzt: Der 45-Jährige hat die Bürgerinitiative „Zossen zeigt Gesicht“ gegründet, hat das „Haus der Demokratie“ aufgebaut – und ist alles andere als ein Arschgesicht. Wenn man vom Marktplatz an der Kirche rechts abbiegt, kann man ihn durch das Fenster seines Büros schon aus der Ferne sehen. Auf der Hauswand standen bereits Drohungen wie „Linke Sau“, „Volksverräter“ oder „Jörg Wanke wird bald sterben“. Als Mitglieder der Initiative die braune Farbe mit weißer Farbe übertünchten, standen auf der Straßenseite gegenüber bierdosenschwenkend die feixenden Täter. Mut braucht es nicht, im Schutz der Dunkelheit solche Parolen zu schmieren. Mut braucht es, trotzdem auf dem Präsentierteller sitzen zu bleiben. Wanke versteckt sich nicht, er zeigt sich wirklich. Spätestens als Rechtsextreme 2008 im Ortskern von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen. Ihr Anliegen: die Verlegung von sogenannten „Stolpersteinen“ vor den ehemaligen Wohnungen ermordeter Juden verhindern. Der Betreiber eines Internetcafés, aus Berlin zugezogen, bezeichnet das Vorhaben, vor seinem Schaufenster zwei Stolpersteine einzulassen, als „Psychoterror“, wird handgreiflich. Nachdem die Stolpersteine unter Polizeischutz verlegt waren, bedeckt er sie mit einem Bierkasten. Der Bierkasten wird berühmt, der Laden mausert sich zur Anlaufstelle für Rechtsextreme. Das Fernsehen kommt, guckt und staunt. Plötzlich besteht gegen den Cafébetreiber der Verdacht des Kindesmissbrauchs, es folgen Schlaftabletten, Märtyrertod. Wenn die Rechtsextremen wieder dran sind, werden sie vielleicht eine Straße nach ihm benennen.

Wanke handelte. In einem Horrorfilm wäre er derjenige, der für den Kampf gegen die Zombies eine Truppe aus Gleichgesinnten zusammentrommelt. Sie alle eint ein Stolz, ein Bürgersinn und vor allem eine Heimatliebe, die grimmiger und entschiedener ist als die ihrer politischen Gegner. Die können nur nisten, wo das Gemeinwesen fault. Und deshalb gab es im „Haus der Demokratie“ einen Proberaum für Schülerbands, eine informelle Jobbörse und Ausstellungen zur Geschichte von Zossen. Gelernt hat Wanke das nicht, für Politik hat er sich „eigentlich nie“ interessiert. Hauptberuflich makelt er Versicherungen. Klar habe er gewusst, wie’s aussieht im Landkreis mit den „Kameradschaften“, den „Freien Kräften“ und anderen Erscheinungsformen des Problems. Gekümmert hat ihn das kaum. Immerhin bekommt die NPD in Zossen keinen Fuß in die Rathaustür, also sei’s drum. Dabei regiert hier nicht einmal die Linke oder die SPD, sondern – wie in vielen Kommunen im Osten – eine „freie“ Bürgermeisterin, die Kandidatin aus dem Lager kleiner und mittelständischer Unternehmer. Der geht es darum, Zossen aus den Schlagzeilen herauszuhalten und – etwa durch eine Senkung der Gewerbesteuer auf das erlaubte Minimum – Investoren zu locken. Sie ist eine Art Geschäftsführerin des Gemeinwesens.

In Orten, in denen nur noch die Sonnen- oder Tattoostudios blühen, wird es ungemütlich

Zossen liegt 20 Kilometer südlich der Stadtgrenze von Berlin. Gerade jenseits des sogenannten Speckgürtels in Reichweite der S-Bahn, wo metropolenmüde Familien sich gerne niederlassen. Wer von der Autobahn kommt, der muss ein ganzes Weilchen durch die brandenburgische Ödnis zockeln. Damit Jugendliche bei der Heimfahrt von der Disko nicht mehr so oft gegen die Bäume fahren, säumen Leitplanken die Alleen. In den Mulden auf den Stoppelfeldern stehen gefrorene Pfützen, auf denen junge Familien Schlittschuh laufen. Idyll oder toter Winkel? Vielleicht beides, ein idyllischer toter Winkel. Knapp 17.000 Menschen leben hier. Die Infrastruktur ist ein Trauerspiel, sogar die Internetanbindung ein Witz. Aber hübsch ist es hier. Ein Ortskern wie aus einer betulichen Vorabendserie, wo die Welt noch heil ist. Bäcker, Rathaus, Apotheke, Buchladen und die Redaktionsräume des Lokalblatts stehen einträchtig beieinander. Neuerdings gibt es dort auch die „World of Döner“, betrieben von dem aus Berlin zugezogenen Türken Erol Cacan. Seit das „Haus der Demokratie“ abgebrannt ist, trifft sich „Zossen zeigt Gesicht“ in seinem Lokal. Er sagt, in 20 Jahren habe er in der Hauptstadt nicht so viele Anfeindungen erlebt wie in zwölf Monaten in Zossen. Cacan schüttelt entschlossen den Kopf. Er ist jetzt hier zu Hause, und er wird bleiben. Es gibt genug kräftige Charaktere hier, die Zossen an seinem eigenen Schopf vom Abgrund wegziehen können.

Anders und wesentlich düsterer sieht es in Anklam aus, oben in Mecklenburg-Vorpommern. Das „Tor zur Sonneninsel Usedom“ ist noch entlegener, noch kleiner als Zossen. Brachen, auf denen wie Zahnstummel eingestürztes Mauerwerk verrottet. Plattenbauten mit auch schon wieder abblätternder Nachwendeschminke säumen die Einfallstraßen. Wie beleuchtete Aquarien stehen da ein Autohaus, eine Tankstelle. Eine quadratische Zuckerfabrik im Dunst auf der grünen Wiese. Und die üblichen großspurigen Großmarktklötze, die wie überall als kommerzielle Todessterne ihren gewaltigen Schatten auf das Zentrum einer Gemeinde werfen. Dort blühen dann nur noch Sonnen-, Nagel- oder Tattoostudios. Und besonders unheimliche Nachtschattengewächse wie das New Dawn, ein Geschäft für Nazi-Bedarf. Hier gibt es T-Shirts mit martialischem „Vorpommern“-Aufdruck, rechtsextreme Presse und Tonträger von Gruppen wie Nordsturm, Tonstörung, Kahlschlag, Skrewdriver oder Spreegeschwader. Anklam zeigt Antlitz, sozusagen. Drinnen geht es genauso zu wie in jeder anderen Provinzboutique auch. Der Kunde muss sich gedulden, bis die Verkäuferin fertig telefoniert hat, wird dann aber routiniert beraten. Alles wirkt so banal und alltäglich, als besuche man ein paralleles Universum, in dem sich das singuläre Grauen des „Dritten Reichs“ nie ereignet hat.

Dabei sind auch dem New Dawn schon die Scheiben eingeworfen worden, von Antifaschisten. Hier tobt der gleiche Kampf wie in Zossen, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Anklam gilt den Rechten als „nationaler Leuchtturm“. Der Konfliktforscher Dierk Borstel hat hier für sein verdienstvolles Buch „Braun gehört zu bunt dazu!“ recherchiert und sich deshalb eine Zweitwohnung im Ort genommen. Die Begründung liest sich, als wage sich da ein Völkerkundler in den Dschungel von Borneo: „Ich verspreche mir davon eine deutlichere Nähe zur Alltagskultur und Kontakte, die ich als Reisender sonst nicht bekommen hätte.“ Auch in Anklam sind die demokratischen Parteien mehrheitlich zu komischen Klüngelklubs verkümmert, die Arbeitslosenquote dümpelt auf bedenklichem Niveau. Die NPD kommt mancherorts auf satte 30 Prozent. „Die kümmern sich eben um die Leute, und den Leuten gefällt das“, sagt Annett Freier. Zusammen mit ihrer Kollegin Tina Rath betreibt sie den Demokratieladen in Anklam, der zugleich Sitz des Vereins Demokratisches Ostvorpommern ist.

Die beiden Frauen und ihre Mitstreiter wollen die Demokratie, die hier längst auf den Kampfhund gekommen ist, wieder „erlebbar“ machen. Sie organisieren Jugendbürgerversammlungen, Freiluftkonzerte und Vernissagen. Plant die NPD ein Kinderfest, steuern Freier und Rath mit einer eigenen Veranstaltung dagegen. Das Zauberwort heißt „Vernetzung“, damit greifen sie die Nazis auf deren eigenem Terrain an. Das geschieht, anders als in Zossen, mit Bundesgeldern – ist aber dennoch alles andere als leicht in einer Stadt, deren parteiloser Bürgermeister den Bürgern allen Ernstes rät, bei NPD-Demonstrationen zu Hause zu bleiben und die Fenster zu schließen. „Es ist nicht damit getan, für ein Konzert gegen Rechtsextreme tolle Bands nach Anklam einzuladen, die hier ihr Statement ablassen und danach wieder wegfahren“, erklärt Annett Freier ihren Ansatz: „Es geht darum, jungen Bands aus der Gegend eine Auftrittsmöglichkeit zu verschaffen – und so den Leuten das Gefühl zu geben, dass sie selbst etwas auf die Beine gestellt haben. Das kann nicht von außen kommen.“

Klar wird auch mal ein Joachim Gauck eingeladen oder die Akademie der Künste aus Berlin, aber die eigentliche Arbeit setzt vor Ort an – in den trostlosen Weilern rund um die Stadt. In Wietstock oder Tollensetal etwa haben Freier und Rath eine kommunale Zeitung aus der Taufe gehoben, sie veranstalten Graffiti-Projekte oder Informationsveranstaltungen zum Thema: Kommunalpolitik, was ist das eigentlich? Gerade Jugendlichen soll gezeigt werden, dass die Welt größer ist als Vorpommern, dass auch Polen nette Menschen sind und die Welt noch anderes zu bieten hat als Hass mit SS, Aufmärsche und Benzin in Plastikflaschen. „Wenn die Leute älter werden, Arbeit haben und eine Familie gründen“, sagt Freier, „wächst sich das meistens aus, dann ist es mit dem Extremismus vorbei.“ Die Teilnahmslosigkeit allerdings bleibt. Hier ein Bewusstsein für bürgerliches Gemeinwohl zu schaffen, das hält Freier für einen „langen Prozess“. Man könnte es auch eine Sisyphosarbeit nennen, die nur mit viel Idealismus und Vertrauen auf die Vernunft in Angriff zu nehmen ist. Schön, dass es Menschen gibt, die sich das antun.