Thema – Erinnern

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Krieg und niemals Frieden

Im Juli 1995 fand in Europa das schlimmste Kriegsverbrechen seit den Weltkriegen statt. Hasan Nuhanović hat den Völkermord von Srebrenica überlebt. Gegen die Täter kämpft er bis heute

Opfer des Massakers von Srebrenica auf dem Fluchtweg in den Bergen gefunden

Hasan Nuhanović ist für viele Menschen in Bosnien-Herzegowina so etwas wie ein Held. Der Mann, der als Einziger seiner Familie eines der schlimmsten Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg überlebte; der die Niederlande vor Gericht brachte; der als ausgebildeter Maschinenbauer über den Völkermord von Srebrenica promoviert; der versucht, die Welt zum Hinschauen zu zwingen. „Ich will die Wahrheit zeigen, ich will Gerechtigkeit“, sagt Hasan heute.

Er sitzt in seiner Wohnung in Sarejevo und blickt in die Skype-Kamera. Tiefe Furchen ziehen sich durch sein Gesicht, er sieht müde aus. Obwohl der Völkermord mitten in Europa geschah, nur etwa 800 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, habe sich auf dem Kontinent zu lange niemand für die Wahrheit interessiert, sagt Hasan. Dabei handelt die Geschichte doch auch davon, wie Europa damals wegschaute und Tausende Menschen ihrem Schicksal überließ.

Der Bürgerkrieg macht Nachbarn über Nacht zu Feinden

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Hasan Nuhanovic mit Eltern und Bruder (Foto: privat)

Hasan mit seinen Eltern und Bruder

(Foto: privat)

Seine Geschichte beginnt 1992. Seit drei Jahren studiert Hasan Maschinenbau in Sarajevo, als serbische Truppen in die Stadt einmarschieren. Nur ein Jahr zuvor hatte sich Jugoslawien, der Staat, in dem Hasan geboren war, endgültig aufgelöst. Erst erklärte sich Slowenien unabhängig, dann Kroatien. Das sozialistische Jugoslawien verschwand von der Landkarte, stattdessen begannen drei Armeen um die Überreste des zerfallenen Staates zu kämpfen: serbische, kroatische und bosniakische Truppen.

Hasans Familie gehört zur bosniakischen Bevölkerung, doch sein Heimatort liegt in einem Teil Bosnien-Herzegowinas, der mehrheitlich von Serben kontrolliert wird. Nach Ausbruch des Bosnienkriegs – der zeitgleich zum Kroatienkrieg stattfand – leben sie mit einem Mal im Feindesland. Aus Sorge um seine Eltern steigt er in den nächsten Bus und fährt aus Sarajevo nach Hause. Als er das Haus seiner Eltern erreicht, rufen ihm serbische Polizisten zu: „Verschwindet von hier, oder ihr werdet sterben.“ Über Nacht hat der Bürgerkrieg aus Nachbarn Feinde gemacht – und Hasan zum Flüchtling.

Um zu überleben, schlägt er sich gemeinsam mit seinen Eltern und seinem Bruder in die Wälder. Sie irren von einem Ort zum nächsten, immer auf der Flucht vor den serbischen Truppen. Bomben explodieren nur wenige Meter von ihnen entfernt, Gewehrsalven fegen über ihre Köpfe hinweg. Tagelang finden sie nichts zu essen, wenn sie unterwegs jemandem begegnen, fürchten sie, es könnten Feinde sein. In den Monaten der Flucht hört die Familie schreckliche Geschichten von niedergebrannten Dörfern, von Morden und Vergewaltigungen. Plötzlich, so scheint es, versinkt die Welt um sie herum in Gewalt.

Srebrenica fühlte sich an wie die Rettung

Sechs Monate später erreichen die Nuhanovićs im September 1992 Srebrenica. Die Stadt liegt eingezwängt zwischen steilen Hügeln, umgeben von dichten Wäldern, ein kleiner Fluss fließt vorbei an Moscheen und Kirchtürmen. Srebrenica wirkt friedlich, zum ersten Mal fühlt es sich an, als würde sich für die völlig erschöpfte Familie alles zum Guten wenden. Sie wird freundlich empfangen, erhält Brot und Suppe und darf ein leer stehendes Haus beziehen.

Kurz darauf erklären die Vereinten Nationen Srebrenica zur Schutzzone für Zivilisten. Die kämpfenden Armeen dürfen die Stadt nicht betreten. Am 17. April 1993 fahren kanadische Soldaten mit Jeeps in den Ort ein, auf denen das weiße Emblem der UN prangt, Hasan ruft: „Do you have a cigarette?“ Er ist stolz auf seinen ersten englischen Satz.

Die Gedenkstätte und der Friedhof von Srebrenica in Potocari, Bosnien (Foto:  Andrew Testa/NYT/Redux/laif)

Die Gedenkstätte und der Friedhof von Srebrenica in Potocari, Bosnien

(Foto: Andrew Testa/NYT/Redux/laif)

Seit einigen Wochen lernt er mit einem alten Schulbuch Englisch. Als die Kanadier Stellung beziehen, darf er als Dolmetscher für die UN-Truppen arbeiten. Zuerst übersetzt er für die Kanadier, dann für die Niederländer, die den Schutz der Stadt übernehmen. Zwei Jahre lang lebt Hasans Familie in Srebrenica unter dem Schutz der Vereinten Nationen. Während im Rest des Landes der Krieg tobt, glaubt Hasan, sie seien endlich in Sicherheit. 

Im Juli 1995, fast drei Jahre nachdem die Familie Nuhanović nach Srebrenica gekommen ist, beschließen serbische Truppen, die Stadt einzunehmen. Niemand wird sie aufhalten.

8.000 Jungen und Männer, hingerichtet und verscharrt

Zu der Zeit leben bereits etwa 42.000 Menschen in Srebrenica, fast alle sind Flüchtlinge aus anderen Teilen des Landes. Als in der Nacht vom 6. Juli der serbische Angriff beginnt, kontern die UN-Truppen zunächst mit Luftangriffen und ziehen sich dann, nach dem Ausbleiben von Unterstützung und der Drohung, UN-Geiseln zu töten, zurück. Die Menschen in Srebrenica fliehen in Panik aus ihren Häusern und versuchen, auf den Stützpunkt der UN-Soldaten zu gelangen, der nur wenige Kilometer außerhalb der Stadt liegt.

Einige Tausend Bosniaken erhalten dort Zuflucht, mehr als 25.000 Menschen lagern vor den Toren, in der Hoffnung auf Schutz. Der Rest schlägt sich wieder in die Wälder. Alle haben Angst vor den serbischen Soldaten: Es geht das Gerücht um, dass sie die muslimischen Bosniaken vertreiben und ein rein serbisches Gebiet etablieren wollen. Die Rede ist von „ethnischen Säuberungen“.

Hasan ist damals bereits offiziell UN-Mitarbeiter. Er und seine Familie dürfen deshalb auf dem sicheren Gelände bleiben. Noch immer hoffen sie: Die Niederländer werden sie beschützen. Dann kommt alles anders.

„Der Mörder meiner Mutter arbeitet im selben Gebäude wie ich, und niemanden interessiert es“

Am Abend des 11. Juli fährt der niederländische UN-Kommandeur Thomas Karremans vom Stützpunkt aus nach Srebrenica, um mit dem serbischen General Ratko Mladić zu verhandeln. Die Männer handeln einen Deal aus: Die Kampfhandlungen werden eingestellt, dafür kümmern sich die Serben um die Flüchtlinge.

Von diesem Treffen gibt es Videoaufnahmen, die zeigen, dass Karremans und Mladić keine ebenbürtigen Verhandlungspartner waren. Mladić war der Sieger, Karremans wirkt, als habe er große Angst, dass die Serben seine Soldaten umbringen könnten. Er wird später behaupten, er habe nicht ahnen können, was die serbischen Truppen mit den Flüchtlingen vorhatten.

Als Hasan von den Verhandlungen erfährt, fleht er die Niederländer an, seine Familie nicht den Serben zu übergeben. Aber der niederländische Kommandeur erklärt: Hasan als Dolmetscher darf bleiben, alle anderen müssen das Gelände verlassen. Auf den Videoaufnahmen sieht man serbische Soldaten mit Maschinengewehren und verzweifelte Menschen, die um ihr Leben betteln.

Seit fast zwei Stunden erzählt Hasan bereits, seine Stimmt klingt rau. Dann sagt er: „Ich möchte nicht mehr über das sprechen, was dort geschah. Es tut zu sehr weh.“ Er meint den Moment, in dem seine Eltern und sein Bruder ihm den Rücken zukehren und an den UN-Soldaten vorbei das Gelände der Vereinten Nationen verlassen. Ihre letzten Worte: „Uns wird nichts passieren.“

Hasan Nuhanović gegen die Niederlande: ein elfjähriger Prozess

Was dann passierte, bezeichnete der Internationalen Strafgerichtshof in den Urteilen gegen Ratko Mladić und seine Anhänger als Völkermord. Hasan hat seine Version der Geschichte schon oft erzählt: wie die serbischen Truppen die bosniakischen Männer vom Rest der Flüchtlinge trennten, sie in Busse verluden und ermordeten. Rund 8.000 Jungen und Männer, von hinten erschossen und verscharrt. Wie er, Hasan, überlebte, weil ihn die UN-Soldaten nach Kroatien brachten. Wie er später nach Bosnien zurückkehrte, um herauszufinden, was mit seiner Familie geschah. Wie er die Leichen suchte und fand. Wie Hasan beschloss, vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu treten.

Er wollte beweisen, dass die Niederländer, die zu dem Zeitpunkt die Friedensmission in Srebrenica führten, eine Mitschuld am Tod der bosniakischen Flüchtlinge trugen. Hasan Nuhanović gegen die Niederlande. Elf Jahre lang dauerte der Prozess, bei dem es um den Tod von drei Menschen ging, darunter Hasan Nuhanović’ Vater und Bruder. Schließlich bekam er recht. Das Gericht urteilte: Die Niederländer hätten Hasans Vater und Bruder retten müssen. Er und drei weitere Angehörige der Getöteten erhielten 20.000 Euro – als Entschädigung.

Heute arbeitet Hasan als Berater für die Gedenkstätte in Srebrenica, von seinem Büro in Sarajevo aus recherchiert er weiter zu den Kriegsverbrechen der Serben. Er sagt, viele der Täter von damals seien bis heute auf freiem Fuß: „Der Mörder meiner Mutter arbeitet im selben Gebäude wie ich, und niemanden interessiert es.“ In Serbien spricht offiziell niemand von einem Völkermord. Erst im vergangenen Jahr bedankte sich ein Abgeordneter der serbischen Regierungspartei öffentlich für die „Befreiung Srebrenicas“ durch General Mladić. Hasan kämpft nicht nur für Gerechtigkeit. Er hat Angst, dass die Täter am Ende doch noch gewinnen könnten. „Der Prozess gegen die Niederlande“, sagt Hasan, „war bloß ein Anfang.“

Nur wenige Monate nach dem Morden in Srebrenica schlossen die Kriegsparteien auf Druck der internationalen Gemeinschaft Frieden. Das Land Bosnien-Herzegowina wurde eine Föderation mit einem bosniakisch-kroatischen und einem serbischen Teil. Srebrenica liegt seitdem im serbischen Teil. Vor einigen Wochen stellte der Bürgermeister dort ein Banner auf, das den serbischen Präsidenten zeigt. Darunter steht in großen Buchstaben auf Kyrillisch: „Dankbares Srebrenica“.

Titelbild: Ron Haviv/VII/Redux/laif

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