Wenn Menschen Ameisen wären, sagt Michael Braungart, gäbe es eigentlich kein Problem. Ameisen verbrauchen mehr Nahrung als Menschen. Aber sie produzieren dabei keinen Müll. Könnte man das nicht nachmachen? Man kann. Braungart, studierter Chemiker und Verfahrenstechniker, entwickelte das Cradle-to-Cradle-Prinzip (C2C), zu Deutsch „von der Wiege bis zur Wiege“. Die Idee: Dinge so zu produzieren, dass man sie entweder immer wieder verwerten kann – oder gefahrlos wegwerfen. Die von Braungart entwickelten Sitzbezüge fliegen im Airbus A380 mit, seine Eiscremeverpackungen schmelzen bei Raumtemperatur, seine T-Shirts sind kompostierbar. Interview mit einem Revolutionär.
Herr Braungart, wann haben Sie zum letzten Mal etwas in den Müll geworfen?
Heute Morgen, eine Zeitung in den Altpapiercontainer.
Als erklärtem Müll-Gegner muss Ihnen das wehgetan haben.
Natürlich. Das Papier ist ja nicht für Recycling gemacht, sondern für Downcycling: Die Qualität wird von Mal zu Mal schlechter. Wenn Sie eine Zeitung im Ofen verbrennen, ist sie so giftig, dass man die Asche nicht in die Landwirtschaft streuen kann. Wenn man sie ins Altpapier gibt, wird sie zum Lebensmittelkarton und kontaminiert damit – wegen der Druckerschwärze aus der Zeitung – die Pizzas. Oder nehmen Sie, als Beispiel, unser Toilettenpapier. Mit einem Kilo Toilettenpapier vergiftet man über fünf Millionen Liter Wasser so sehr, dass es keine Trinkwasserqualität mehr hat.
Aber es gibt doch funktionierendes Recycling. Ich habe vorhin eine ganz normale Plastikflasche weggeworfen. Die besteht aus PET. Aus ihr entsteht womöglich irgendwann wieder eine Flasche. Wo ist das Problem?
Wenn zig Millionen Tonnen Plastik jedes Jahr im Meer landen, ist es einfach ein schlechtes Produkt. Es ist schlechte Chemie.
Was ist dann Ihr Ansatz?
Es geht um nicht weniger als darum, alles noch mal neu zu erfinden. Alle Dinge, die verschleißen, die verbraucht werden – Toilettenpapier, Kleidung, Verpackungen –, müssen so sein, dass sie komplett in biologische Systeme zurückgehen. Alle Dinge, die gebraucht werden, zum Beispiel Kühlschränke und Smartphones, müssen wieder zurück in die Wirtschaft. Anstatt eine perfekte Abfallwirtschaft aufzubauen, geht es darum, die Materialien von vornherein so zu gestalten, dass sie entweder kompostierbar sind oder in der sogenannten Technosphäre bleiben.
Sie wollen also den Begriff „Abfall“ in den Müll werfen.
Es geht nicht um null Abfall. Wenn ich Ihnen sage: Denken Sie nicht an ein rosarotes Krokodil, dann denken Sie zwangsläufig an ein rosarotes Krokodil. Wir müssen aufhören, an „Abfall“ überhaupt zu denken. Es geht darum, alles nützlich zu machen. Alle Dinge sollen in den Kreislauf zurück. Dann hätte die Erde auch genug Rohstoffe für zehn Milliarden Menschen.
Was wurde denn schon alles nach Ihrem C2C-Prinzip gebaut?
Wir haben Teppichböden entwickelt, die nicht nur nicht stinken, sondern die Luft aktiv reinigen. Wir haben mit Philips einen Fernseher entwickelt, der extrem viel Strom einspart, so viel, dass er sich gewissermaßen selbst bezahlt. Wenn Sie einen Turnschuh mit dem Aufdruck „Mindestens haltbar bis 2017“ herstellen, dann können Sie die besten Materialien verwenden. Denn Sie erhalten sie ja wieder zurück. Und der Kunde kommt auch wieder in den Laden. Da ist übrigens nichts auf Pflanzenbasis hergestellt, das ist Hightech-Chemie. Wir haben auch essbare Bezugsstoffe produziert. In der Möbelindustrie sind die Stoffbezüge manchmal so giftig, dass sie als Sondermüll verbrannt werden müssen.
Wer sollte Sitzbezüge essen wollen?
Sie müssen essbar sein, es geht gar nicht anders. Wenn ich auf dem Sofa hin- und herrutsche und die Fasern in der Luft rumfliegen, dann esse ich quasi den Bezugsstoff mit. Ich atme den Dreck ein. Giftige Innenraumluft ist ein großes Problem, nicht nur im Flugzeug, auch in Schulen und Universitäten.
Haben Sie wirklich probiert, die Bezüge zu essen?
Ja, klar! Sie können die Fasern klein schneiden und ins Müsli packen, wenn Sie wollen. Die Menschen haben ja ohnehin Ballaststoffmangel.
Ich muss also gar nicht meinen Konsum reduzieren, um die Umwelt zu schützen?
Nein. In Deutschland gilt das Motto: Weniger Müll schützt die Umwelt. Das ist aber kein Schutz, das ist nur weniger Zerstörung, wie wenn ich sage: Schlag dein Kind nur fünfmal anstatt zehnmal! Schauen Sie sich mal einen Kirschbaum im Frühling an. Die Natur spart nicht. Alles ist daran nützlich, aber verschwenderisch. Es geht nicht darum, weniger zu konsumieren. Dann läuft ja immer noch alles von der Wiege zur Bahre. Das alte System mache ich damit nur perfekter – und damit perfekter falsch.
Sie haben die Grünen 1980 mitgegründet und waren bei Greenpeace-Aktionen dabei. Aber was Sie da sagen, klingt so gar nicht nach dem, was man klischeehaft „Öko“ nennt.
Die ganzen Proteste in den 1980ern waren schon notwendig. Ich bin auch mit dem Schlauchboot rumgefahren, habe Rohre verstopft, die giftige Abwässer aus der Zellstoffindustrie ausließen. Aber ich wollte immer zeigen, dass es auch anders geht. Damals habe ich gesagt: Man kann Zellstoff auch ohne Chlor bleichen. Heute ist das die gängige Technik. Anfang der 1990er habe ich dann gezeigt, wie man Kühlschränke entwickeln kann, die kein FCKW enthalten. Siemens schrieb dann in einer Pressemitteilung, dass die Kühlschränke explodieren könnten. Heute ist es die gängige Technik. Durch die ganze Umweltdiskussion nach Tschernobyl, durch alle möglichen Umweltzerstörungen haben wir eine ganze Generation an guten Wissenschaftlern verloren. Chemie zu studieren war früher verpönt. Die Leute wurden lieber Banker. Wir brauchen aber heute die besten Leute. Ich gehe momentan in Holland von Gymnasium zu Gymnasium, um Schüler dazu zu motivieren, Naturwissenschaften zu studieren, Chemie, Physik. Von 400 Leuten kommen dann immer 20 oder 30, die sagen: Da mache ich mit.
Wenn doch aber alles erst wieder neu erfunden und entwickelt werden muss: Sind dann die Cradle-to-Cradle-Produkte nicht viel teurer?
Im Gegenteil. Es ist alles viel billiger, weil es keinen Abfall mehr gibt. Ich muss nicht teure Verbrennungsöfen bauen. Auch der Arbeitsschutz wird viel einfacher. Die Intelligenz steht am Anfang, bei der Produktion, und nicht am Ende, bei der Verwertung. Dadurch entstehen viel schönere und viel bessere Produkte. Wenn man verstanden hat, dass schlecht nicht gut ist, dann möchte man nicht mit weniger schlecht weitermachen.
Es gibt durchaus renommierte Kritiker, die sagen, dass Ihr Konzept für Flugzeugsitze funktioniert, aber nicht für den Rest des Flugzeugs. „Cradle to Cradle“ sei nicht bei allem anwendbar.
Nennen Sie mir nur ein Produkt, bei dem das so wäre! Die Natur funktioniert doch auch so. Warum sollten wir dümmer sein als ein Baum? Es ist nur neu, und es ist anders. Neue Dinge, neue Ideen brauchen eben Zeit. Das erste Internet gab es 1968, und jetzt schauen Sie, wie lange das gebraucht hat. Cradle to Cradle entwickelt sich derzeit wie ein freundlicher Tsunami. Es gibt inzwischen über 1.100 Produkte auf dem Markt.
Eines davon ist das größte Containerschiff der Welt, es wurde nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip gebaut und vor kurzem an eine dänische Reederei ausgeliefert.
Das Schiff ist so zusammengesetzt, dass sich die Einzelteile leicht wieder voneinander trennen lassen. Dadurch lässt sich zum Beispiel der Stahl sehr gut wiederverwenden. Dänemark ist das Heimatland von Lego. Da kam die Baukasten-Idee natürlich gut an.
Dr. Michael Braungart wurde 1958 in Schwäbisch Gmünd geboren. Er studierte Chemie und Verfahrenstechnik und promovierte 1985 als Chemiker in Hannover. Schon in den 80-Jahren war er bei Greenpeace Deutschland aktiv, unter anderem als Leiter des Bereichs Chemie. Zusammen mit dem US-amerikanischen Designer William McDonough entwickelte er das Cradle-to-Cradle-Prinzip und veröffentlichte mehrere Bücher. Heute ist Braungart ist Professor an der Erasmus-Universität Rotterdam und wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umweltinstituts. Verheiratet ist er mit der ehemaligen niedersächsischen SPD-Umweltministerin Monika Griefahn. Über all seine Bücher, Termine und Projekte informiert Michael Braungart auch auf seiner Webseite.