„Das Einzige, was die Kandidaten von einem Gewinn über 500.000 Dollar trennt, ist die Fähigkeit, 21 Fragen zu beantworten. Und zwar mit der Wahrheit, der ganzen Wahrheit und nichts als der Wahrheit.“ Mit diesen Worten warb der konservative US-Sender Fox, als im Januar 2008 „The Moment of Truth“ auf Sendung ging.

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„Hast du dich jemals beim Duschen selbst im Spiegel bewundert?“ Na das ist ja noch harmlos (Foto: Fox)

„Hast du dich jemals beim Duschen selbst im Spiegel bewundert?“ Na das ist ja noch harmlos

(Foto: Fox)

Nicht nur die Wortwahl, das ganze Setting der Spielshow glich einer Situation vor Gericht: Auf der Anklagebank, einem roten Ledersessel, mussten die Kandidaten Rede und Antwort stehen. Der Moderator fungierte als Staatsanwalt, ein Lügendetektor war der Richter. Die am Rand der Bühne platzierten Angehörigen waren die mittelbaren Opfer des Schauprozesses. Erst ihre Anwesenheit macht die Geständnisse der Kandidaten so richtig schmerzhaft.

Die Fragen begannen dabei relativ harmlos, etwa mit „Haben Sie schon einmal ein parkendes Auto angefahren, ohne eine Nachricht zu hinterlassen?“, steigerten sich aber bald zu „Empfinden Sie fette Menschen als abstoßend?“ und endeten bei Fragen, die in der Lage waren, Beziehungen zu erschüttern und Leben zu zerstören. Und in manchen Fällen passierte genau das.

Geld gewannen die Kandidaten dabei nach einem Stufenverfahren: Für die wahrheitsgemäße Beantwortung der ersten sechs Fragen winkten 10.000 Dollar, fünf weitere brachten 25.000 Dollar – und so weiter. Bis zur 21. Frage, die den Hauptgewinn von einer halben Million Dollar versprach. Die Kandidaten konnten sich jederzeit entscheiden, auszusteigen, jedoch nur, bevor die nächste Frage gestellt wurde. Weigerten sie sich zu antworten oder entsprach eine Antwort nicht der Wahrheit, fielen sie auf eine niedrigere Gewinnstufe zurück. In der ersten Staffel gingen sie dann sogar völlig leer aus.

Sie haben kein Recht, die Aussage zu verweigern!

Im Unterschied zu einer Gerichtsverhandlung hatten die Angeklagten in „The Moment of Truth“ nicht das Recht, die Aussage zu verweigern. Egal wie er oder sie antwortete, die Wahrheit kam heraus – sofern man an die Fähigkeiten von Lügendetektoren glaubt. Denn nach eingehender Recherche in ihrem Lebensumfeld wurden den Teilnehmern bereits vor der Sendung in einem Durchlauf mindestens 50 Fragen gestellt –  wobei sie an einen Lügendetektor angeschlossen waren. Die Kandidaten kennen das Ergebnis des Lügendetektortests nicht, genauso wenig wie die Auswahl und die Reihenfolge der Fragen, die daraus in der späteren Sendung verwendet wurden. Doch wie sie auch antworteten, die Maschine befand am Ende darüber, was wahr und was falsch war.

Anders als den meisten anderen Kandidaten ging es Melanie Williams nicht ums Geld, als sie sich entschloss, an der, wie sie sagte „furchtbaren“ Show teilzunehmen. Sie stammte aus einer Familie, die einer fundamentalistischen Untersekte der Mormonen angehörte. Dort dürfen Männer mit mehreren Frauen verheiratet sein – auch mit Frauen, die noch Mädchen sind. Williams, die schon vor einiger Zeit aus der Sekte ausgetreten war, hatte ihren Vater um Erlaubnis gebeten, an „The Moment of Truth“ teilnehmen zu dürfen. Er saß am Rand der Bühne, als sie die 21. Frage gestellt bekam: „Glauben Sie, dass Ihr Vater als Erwachsener jemals sexuelle Beziehungen zu Minderjährigen hatte?“

Williams sagte unter Tränen, sie beantworte diese Frage für ihren Vater, und: bejahte. Die vierte Frau ihres Vaters war zum Zeitpunkt der Hochzeit 14 Jahre alt gewesen. In einem eigenartigen Moment zwischen Triumph und Erschütterung und unter dem Applaus des Publikums betrat ihr Vater die Bühne, die beiden umarmten sich, und Williams erklärte, ihr Vater fühle sich schuldig dafür, was er unter dem Einfluss seiner religiösen Führer getan habe. Trotz seines öffentlichen Geständnisses wurde er nie strafrechtlich belangt. Im Bundesstaat Utah, wo er lebte, war die Tat bereits verjährt.

Am Ende der Williams-Folge sagte der Moderator Walberg in die Kamera: „Wir haben heute eine wahrhaft ehrliche Person gefunden.“ Melanie Williams sollte die einzige Teilnehmerin bleiben, die jemals das volle Preisgeld gewann. Sie sagte später, sie habe sich für diesen Schritt entschieden, weil sie nur so einer großen Öffentlichkeit zeigen konnte, dass die Sekte junge Frauen missbrauche.

Auf ihrem Blog schilderte sie die Hintergründe ihrer Teilnahme und bekam viel Zuspruch und auch Respektsbekundungen für ihren Auftritt. Im Fernsehen lief diese Episode jedoch nie. Aufgrund der rapide gesunkenen Einschaltquoten – die erste Folge sahen noch erstaunliche 23 Millionen Zuschauer, auf dem Tiefpunkt waren es nur noch 8,6 Millionen – hatte Fox die Show nach der zweiten Staffel abgesetzt. Ein paar der schon abgedrehten Folgen landeten aber auf YouTube.

Während des Abspanns fiel sie vor ihren Eltern auf die Knie

„The Moment of Truth“ basiert auf der kolumbianischen Sendung „Nada más que la Verdad“ – Nichts als die Wahrheit. Das Format erwies sich als derart erfolgreich, dass es in insgesamt 46 Länder exportiert wurde, unter anderem auch nach Peru. Dort hieß die Sendung „El Valor de la Verdad“ – Der Wert der Wahrheit. Die Kandidatin der im Juli 2012 ausgestrahlten ersten Folge war die 19-jährige Ruth Thalía Sayas Sánchez. Ihre Eltern waren mit ihren Kindern erst ein paar Jahre zuvor vom Land in ein Randgebiet von Lima gezogen, um auf dem Markt Ananas und Wassermelonen zu verkaufen. Jetzt saßen sie im Studio, neben ihnen Bryan Romero Leiva, 20, der Freund ihrer Tochter.

Ruth Thalía gab im Laufe der Sendung zu, dass sie nur so lange mit Bryan zusammenzubleiben gedenke, bis jemand Besseres auftauchen würde, dass sie nicht in einem Callcenter, sondern als Tänzerin in einer Bar arbeitete und dass sie gegen Geld mit Männern geschlafen hatte. Diese Offenbarungen brachten ihr 15.000 Soles ein, umgerechnet 4.100 Euro, was ein durchschnittlicher Einwohner Limas in zehn Monaten verdient. Nach der 18. Frage entschied sich Ruth Thalía aufzuhören. Während des Abspanns sah man, wie sie den erstarrten Bryan umarmte und vor ihren Eltern auf die Knie fiel und um Vergebung bat.

Sie habe es für das Geld getan, antwortete sie ihrer schockierten Familie auf die Frage, warum sie in die Sendung gegangen sei. Mit dem Gewinn wollte Ruth Thalía einen Friseursalon eröffnen. Womit sie nicht gerechnet hatte, war die Welle der Empörung und Häme, die über sie herein brach. Verwandte riefen an und sagten, wie sehr sie sich für die Familie schämten, Bryan wurde verhöhnt, er habe sich von ihr vorführen lassen, das ganze Land sprach über die Sendung und Ruth Thálias Geständnisse. Die Schmach war so groß, dass sie an Selbstmord dachte.

Eines Abends, sechs Wochen nachdem „El Valor de la Verdad“ gelaufen war, kam Ruth nicht nach Hause. Elf Tage nach ihrem Verschwinden fand man ihre Leiche am Stadtrand, auf einem Stück Land, das Bryans Onkel gehörte, verscharrt in einem Brunnen. Bryan und sein Onkel wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie hatten versucht, an Ruths Geld zu kommen.

„The Moment of Truth“, „Nada más que la Verdad“ und „El Valor de la Verdad“ waren neue Auswüche des TV-Genres „Reality-Gameshow“, an dem sich schon lange Kontroversen entzündeten: Ist es eine Verletzung der Menschenrechte, Kandidaten in emotionalisierenden Sendungen derart zur Aufgabe ihrer Privatsphäre zu ermuntern? Juristisch war den Sendeanstalten nicht beizukommen, da sie von den Teilnehmern natürlich stets eine rechtssichere Einverständniserklärung eingeholt hatten.

Auch in Deutschland hat es einen Versuch gegeben mit dem Konzept: „Die Wahrheit – und nichts als die Wahrheit“ hieß die deutsche Version der Sendung, die 2008 auf RTL II ausgestrahlt wurde. Sie wurde allerdings nach wenigen Folgen bereits wieder eingestellt. Nur an der Quote kann das nicht gelegen habe, die war gar nicht so weit unter dem Quotendurchschnitt des Senders. Über moralische Skrupel der Entscheidungsträger bei RTL ist aber auch nichts bekannt geworden.

Das war in den USA anders. Mark L. Walberg, der Moderator der amerikanischen Show sollte nach deren Absetzung sagen: „Das Konzept der Sendung ist abstoßend, es ist schrecklich!“ Vielleicht sein persönlicher Moment der Wahrheit.

Anne Waak, geboren 1982 in Dresden, lebt als freie Autorin in Berlin. Während der Recherche musste sie sich sehr zusammenreißen, um nicht ganze Tage damit zuzubringen, alte Folgen der abstoßenden, aber seltsam faszinierenden Gameshow auf Youtube zu schauen.