Im 19. Jahrhundert funktionierte der Kapitalismus in den Industrienationen recht zügellos. Es gab unendlichen Reichtum und gleichzeitig viel Elend. Aber woher kommt die Ungleichheit? Marx ging davon aus, dass der Reichtum der Fabrikbesitzer letztlich auf der Ausbeutung der Arbeiter basieren musste: Die Herrscher über die Werke und Betriebe zahlen ihren Beschäftigten nicht das aus, was die Arbeit wert ist, sondern behalten einen Teil des Lohnes als Gewinn ein. Angelpunkt dieser Theorie ist die Vorstellung, dass allein die menschliche Arbeitskraft ökonomische Werte schafft. Dass auch die Maschinen, die die Fabrikbesitzer bereitstellen, zur Produktion einer Ware beitragen und damit einen Anspruch auf Profit begründen, weist Marx zurück. Nach seinem Verständnis sind die Maschinen, an denen die Arbeiter arbeiten, wiederum selbst ein Ergebnis menschlicher Arbeit. Da einige über die Produktionsmittel verfügen und andere nur ihre Arbeitskraft zu Markte tragen können, spalte sich die Gesellschaft zunehmend in zwei feindliche Blöcke: die Proletarier und die Bourgeoisie. Am Ende würde der Kapitalismus an diesen Spannungen zerbrechen und den Weg in eine klassenlose Gesellschaft ebnen, so prophezeite es Marx. Die Geschichte verlief anders. Es traten mit der Zeit viele Gruppen zwischen diese beiden Lager, die angestellten Manager zum Beispiel, bei denen gar nicht mehr so klar war, ob sie nun zu den Ausbeutern oder den Ausgebeuteten zählten. In der feministischen Theorie wird der Marxismus auch dafür kritisiert, dass er den Klassenwiderspruch allen anderen sozialen und ethnischen Widersprüchen und Machtverhältnissen in einer Gesellschaft voranstellt.

Unter Sozialforschern war es Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr angesagt, die Gesellschaft in Klassen zu unterteilen. Lieber sprach man von Schichten, eine Metapher, die der Geologie entnommen wurde und die die Übergänge in den sozialen Hierarchien fließend und kleinteilig werden ließ: Die obere Schicht liegt über der mittleren, die obere Mittelschicht über der mittleren Mittelschicht, und die wiederum über der unteren Mittelschicht, die untere Mittelschicht liegt über der oberen Unterschicht – und so weiter. Aber warum teilen sich Gesellschaften überhaupt in Oben und Unten? Eine Erklärung lieferten in den 1940er-Jahren die US-Soziologen Kingsley Davis und Wilbert E. Moore: Sie gingen davon aus, dass bestimmte Positionen wichtiger sind als andere. Jede Gesellschaft muss daher besondere Anreize bieten, damit die geeignetsten Personen diese Stellen antreten – sie eben mit mehr Ansehen, Einkommen oder Einfluss verknüpfen. Ungleichheit ist aus dieser Perspektive ein notwendiger Trick, mit dem Gesellschaften dafür sorgen, dass die wichtigsten Schaltstellen mit den besten Leuten besetzt werden. So erklärt sich auch der Name dieses Ansatzes: funktionale Schichtungstheorie. Die Thesen von Davis und Moore haben viel Kritik hervorgerufen. Es ist oft gar nicht so klar, welche die wichtigen Aufgaben einer Gesellschaft sind: Ist der Schuster wichtiger als der Schneider? Warum bezahlen wir Altenpfleger schlechter als Autobauer? Und lassen sich die Spitzeneinkommen von Profifußballern wirklich mit ihrer gesellschaftlichen Wichtigkeit erklären?

Nicht nur Feministinnen klagen, dass Frauen weniger verdienen als Männer. Zahlreiche Verbände verweisen darauf, dass Bewerber mit ausländisch klingenden Namen schlechtere Chancen auf eine Stelle haben. Beides stimmt. Beide Seiten haben gute Gründe, um gegen Diskriminierung zu kämpfen. Aber trotzdem würden Menschen bei diesem Kampf noch durchs Raster fallen. Darauf hat die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw aufmerksam gemacht. Sie untersuchte zum Beispiel den Fall von fünf schwarzen Frauen, die gegen ihre Entlassung bei General Motors klagten. Das Gericht sah in der Kündigung keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts – die weißen Frauen waren ja nicht entlassen worden. Es sah gleichzeitig keine Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe – schwarze Männer hatten ihren Job schließlich behalten. Die Klägerinnen waren doppelt benachteiligt – und gerade deswegen besonders machtlos. Crenshaw bezeichnet dieses Phänomen als Intersektionalität: Verschiedene Arten der Diskriminierung können sich mitunter in einer Person überschneiden und eine eigene Form der Benachteiligung bilden. Kritiker bemängeln am Konzept der Intersektionalität, dass sich die Benachteiligungskategorien beliebig vermehren und bis ins Unendliche aufeinanderstapeln ließen. Wo die entscheidende Kluft zwischen Arm und Reich verläuft, wäre am Ende gar nicht mehr richtig erkennbar.

Es ist nicht das Geld allein, das über die Position in der sozialen Rangordnung bestimmt. Darauf weisen die Arbeiten des Franzosen Pierre Bourdieu hin. Wer oben ist, muss sich häufig mit einem angemessenen Lebensstil beweisen, muss über Kennerschaft in Kunst und Literatur und den richtigen Geschmack beim Essen oder bei der Wohnungseinrichtung verfügen. All diese scheinbaren Randaspekte des Alltags haben eine Funktion: Sie dienen der Abgrenzung der oberen gegenüber den unteren Klassen, der Distinktion, wie Bourdieu es nennt. Er unterscheidet daher zwischen sozialem, ökonomischem und kulturellem Kapital. Kulturelles Kapital lässt sich in ökonomisches umtauschen – mit Hilfe des Bildungssystems. Wer aus einem Professorenhaushalt stammt, wird schon in der Familie viel früher und wesentlich intensiver als ein Arbeiterkind auf Inhalte vorbereitet, die später in der Schule wichtig sind: auf Bücher, auf Musik, auf Theorien. Die Unterschiede sind oft sogar extrem subtil: Das Professorenkind spricht anders, spielt anders, sieht anders aus, tritt souveräner auf und hat damit einen besseren Stand bei den Lehrern. Mit einem hohen Bildungsabschluss lassen sich später wiederum gut bezahlte Berufe erreichen. Der soziale Status wird durch diesen Mechanismus von den Eltern auf die Kinder vererbt, fast wie in einer mittelalterlichen Feudalgesellschaft – nur dass es heute so wirkt, als habe man sich seine Position durch Bildung selbst erarbeitet. Bourdieu würde sagen: Die Undurchlässigkeit der Gesellschaft wird lediglich besser verschleiert als früher. Natürlich hat die Theorie Schwächen: Bildungsabschlüsse gehören für Bourdieu zwar auch zum kulturellen Kapital, aber der Zusammenhang zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital ist nicht immer so eng, wie Bourdieu es darstellt. Es gibt durchaus Berufe, in denen Aufsteiger gutes Geld verdienen können, ohne dafür gelehrt über Konzeptkunst oder Jazzmusik daherreden zu müssen.

Der französische Ökonom Thomas Piketty hat mit dem „Kapital im 21. Jahrhundert“ den Ungleichheitsbestseller der letzten Jahre geschrieben – der sich im Titel an das „Kapital“ von Karl Marx anlehnt. Der 800-Seiten- Wälzer ist voll mit Tabellen, Kurvendiagrammen und Formeln. Die wichtigste Formel lautet: r > g. Piketty zeigt, dass die Kapitalerträge – also Zinseinnahmen, Aktiendividenden, Unternehmensgewinne, Mieteinkünfte – in der Geschichte überwiegend größer ausfielen als das Wachstum der Wirtschaft insgesamt. Das heißt: Die Vermögenden gewinnen mehr hinzu als der Rest. Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen sich in den meisten Industrieländern die Einkommen und Vermögen einander annäherten, stellen für Piketty eher eine historische Ausnahme dar. Die kurze Phase relativer wirtschaftlicher Gleichheit hatte vor allem damit zu tun, dass die großen Kapitalbestände im Krieg zerstört wurden und danach neu aufgebaut werden mussten. Manche Ökonomen bemängeln, Piketty habe in seinen Daten zu wenig zwischen den einzelnen Kapitalarten differenziert. Macht es vielleicht einen Unterschied, ob man sein Geld mit Vermietungen und Verpachtungen oder mit Unternehmen verdient? Eines hat Piketty aber allemal in Erinnerung gerufen: Der wirklich große Reichtum entsteht erst dann, wenn man sein Geld für sich arbeiten lassen kann – oder, wie Marx sagen würde: andere.

Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer – der Bestseller von Piketty hat diesen Eindruck bestärkt. Der ehemalige Weltbank-Ökonom Branko Milanovic zeigt mit seinen Arbeiten, dass es etwas komplizierter ist. Es stimmt zwar: In zahlreichen Ländern ist die Ungleichheit gestiegen. Aber weltweit gesehen wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer kleiner. In ehemaligen Entwicklungsländern, vor allem in China, ist die absolute Armut zurückgegangen, die Zahl der Hungernden gesunken, und Millionen Menschen sind in höhere Einkommensklassen aufgestiegen. In den alten Industrieländern dagegen hat die untere Mittelschicht in den letzten Jahrzehnten Lohneinbußen hinnehmen müssen – auch weil Jobs ins Ausland abwanderten. Milanovic lenkt den Blick auf etwas, was Ökonomen bisher unterschätzt haben: Die Globalisierung, also der freie Handel über Länder und Kontinente hinweg, macht nicht automatisch alle wohlhabender. Sie bringt auch Verlierer hervor. Aufsehen erregte insbesondere Milanovic’ Idee, wie man die globale Ungleichheit weiter verringern könnte: Die Menschen aus armen Ländern sollten weitaus freier als bisher in den Industriestaaten Arbeit aufnehmen können. Um Akzeptanz für die Wirtschaftsmigration zu schaffen, empfiehlt Milanovic, die Einwanderer rechtlich deutlich schlechter zu stellen als die Einheimischen – ein Vorschlag, den viele als Tabubruch empfanden.

Dass einige Menschen so immense Reichtümer anhäufen können, ist keine unabänderliche Folge der Marktwirtschaft. Es ist vor allem das Ergebnis politischer Entscheidungen, analysiert der Ökonom Joseph Stiglitz. Politiker wie der US-Präsident Ronald Reagan haben die Steuern für Gutverdiener gesenkt – mit der Begründung, dass vom steigenden Wohlstand der oberen Schichten nach und nach auch der Rest profitieren würde. Ökonomen nennen das die Trickle-down- Theorie: Der Reichtum sickere nach unten durch. Stiglitz hält sie für einen Irrtum. Die Reichen würden ihren gewonnenen Wohlstand nämlich nicht nutzen, um neue Jobs zu schaffen, sondern um ihre Privilegien zu verteidigen – etwa indem sie verstärkt in Lobbyaktivitäten investieren. Ein Teufelskreis: Mehr ökonomische Ungleichheit, schreibt Stiglitz, führt so zu mehr politischer Ungleichheit und die wiederum zu noch mehr ökonomischer Ungleichheit. Stiglitz denkt insbesondere an sein Heimatland, die USA, wo Präsidentschaftskandidaten in Wahlkämpfen auf reiche Spender angewiesen sind. Eine Studie der Universität Osnabrück deutet darauf hin, dass diese Beobachtung wohl auch für Deutschland gilt: Der Bundestag entscheide sich umso eher für eine bestimmte Politik, je stärker sie von Gutverdienern befürwortet wird.