In Kinofilmen ist Marseille die Hochburg der Mafiosi. In den Medien taucht die Stadt meist nur als krimineller und sozialer Brennpunkt auf. Marseille, das ist aber auch Europas Kulturhauptstadt 2013, eine pulsierende Metropole am Mittelmeer mit einer multikulturellen Bevölkerung. Viele der etwa 850.000 Marseiller haben algerische, italienische, chinesische, marokkanische oder senegalesische Wurzeln. Eines der wohl bekanntesten Einwandererkinder Marseilles ist der Fußballer Zinedine Zidane, Sohn algerischer Einwanderer.Im Lärm der schreienden Händler feilschen Marseiller um frische Pfefferminze, Handys und Schwarzmarktzigaretten. Mitten im Zentrum der Hafenstadt taucht man in engen, verwinkelten Gassen in ein dichtes Menschengewühl. Zwischen Kisten mit Kochbananen und Artischocken hängen türkisweiße Fußballtrikots in allen Größen. Auf ihnen prangen die zwei Buchstaben OM – für den Fußballclub Olympique de Marseille. Ein echter Marseiller ist leidenschaftlicher OM-Fan.

Die Parolen der Front National

Anders als in vielen französischen Großstädten sind die Immigranten in Marseille nicht in die Banlieues, die Vorstädte, verdrängt worden, sondern haben sich auch im Zentrum angesiedelt. Sie haben in den oft heruntergekommenen Gebäuden Geschäfte oder Werkstätten eröffnet und das Stadtbild so entscheidend mitgeprägt. Doch nun soll Marseille aufgeräumt werden. Seit einigen Jahren arbeitet die Stadt daran, ihr Image aufzupolieren. Große städtebauliche Projekte werden umgesetzt, Investoren angelockt. Kleine Händler und sozialschwache Bewohner finden in den Sanierungsplänen keinen Platz. Die explodierenden Mietpreise verdrängen sie in die Vorstädte. Davon ist besonders die letzte Generation der Einwanderer betroffen. Und die sind zum größten Teil Maghrebiner, sie kommen aus nordafrikanischen Ländern, den ehemaligen Kolonien Frankreichs.Der Geruch von Fisch zieht durch die engen Gassen. Nicht weit entfernt, unten am Alten Hafen, werfen Frauen den Fang aus dem Mittelmeer auf ihre Verkaufstische. Sie haben sich Plastikschürzen um die Hüften gebunden, hinter ihren Rücken steuert in der Ferne ein Schiff auf die Hafenstadt zu. Heute legen in Marseille fast nur noch Fähren für Touristen an, sie fahren nach Korsika, Sardinien oder an die nordafrikanische Küste. Doch über Jahrhunderte hinweg war der Hafen ein wichtiger Handelsstützpunkt. Und mit den Schiffen kamen auch die Einwanderer.

Die Einwanderungspolitik in Frankreich ist in den vergangenen Jahren immer restriktiver geworden. Im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf wettert nicht nur Marine Le Pen, Vorsitzende der rechtsextremen Partei Front National, gegen Migranten und besonders gegen Muslime. Auch der amtierende Präsident Nicolas Sarkozy, selbst Sohn von Einwanderern, stellt die Immigration als Gefahr für die französische Identität dar.

Dabei hat Frankreich eine lange Geschichte als Einwanderungsland. Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg verzeichnete es zusammen mit den USA sogar weltweit die meisten Immigranten. Anders als Deutschland, das sich bis vor wenigen Jahren noch nicht einmal offiziell zum Einwanderungsland bekennen wollte, wurde in Paris bereits 1889 ein Gesetz verabschiedet, das alle in Frankreich geborenen Menschen zu französischen Staatsbürgern macht – und das bis heute gilt.

Immer neue Chiens
 du 
quai

In Marseille liegt der Ausländeranteil zwar heute unter zehn Prozent, aber viele eingebürgerte Einwohner haben ausländische Wurzeln. Etwa 200.000 Muslime leben in der Stadt, viele von ihnen schon in der zweiten oder dritten Generation. Waren es vor hundert Jahren die Italiener, die verantwortlich gemacht wurden für wirtschaftliche Krisen und Arbeitslosigkeit, sind heute die Muslime die Sündenböcke. Die rechte Partei Front National schürt diesen Vorwurf. Ihre Parole, die Immigration hätte Marseille verkommen lassen, spricht vielen Einwohnern aus dem Herzen. Immerhin haben mehr als 20 Prozent bei den Regionalwahlen 2010 der rechten Front National ihre Stimme gegeben.

Chiens du quai, Hunde des Kais, so wurden vor hundert Jahren die Italiener beschimpft. Damals war jeder vierte Marseiller ein Ausländer. Der Hafen und die Industrie forderten billige Arbeitskräfte. So war seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem verarmte italienische Landbevölkerung in die Metropole gezogen. Ein halbes Jahrhundert später folgten Polen, Griechen, Russen, Armenier, Türken und Spanier. Als die Weltwirtschaftskrise um 1930 auch Marseille traf, nahm die fremdenfeindliche Stimmung zu und es gab Hetzjagden auf ausländische Arbeiter.

Ihren negativen Ruf verloren die Italiener erst dreißig Jahre später, als die nächste große Einwanderungswelle kam, aus Nordafrika. Die Maghrebiner gelten für viele Franzosen als schwer integrierbar und unerwünscht. Dabei hat Frankreich in der Kolonialzeit nicht nur Verbrechen in ihren Herkunftsländern begangen, sondern die Migranten sogar selbst angeworben. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterzeichnete Paris Verträge mit Staaten wie Tunesien und Marokko, um Arbeitskräfte für den wirtschaftlichen Aufbau ins Land zu holen.

Einigkeit nur bei Olympique

In Marseille herrschte damals dichtes Gedränge und im Hafen Hochbetrieb. Allein im Sommer 1962 stiegen in Marseille über eine halbe Million Menschen von Bord. Es waren vor allem Algerier, Marokkaner und Tunesier auf der Suche nach Arbeit oder auf der Flucht vor dem Krieg, den Frankreich in Algerien führte. Es waren aber auch Flüchtlinge mit europäischer Herkunft, die sich einst in den französischen Kolonien niedergelassen hatten. Für viele blieb Marseille nur Durchgangsort. Dennoch wuchs die Einwohnerzahl rapide an. Doch mit der wirtschaftlichen Situation ging es bergab. Besonders unqualifizierte Arbeitsplätze wurden knapp. 1974 stellte Frankreich wie Deutschland im Jahr zuvor, die Anwerbeprogramme für Ausländer ein. Trotzdem stiegen die Zahlen weiter, viele Migranten holten ihre Familien nach. Die meisten der Neuankömmlinge kämpften von Anfang an mit Arbeitslosigkeit und schlechten Wohnbedingungen – und viele von ihnen leiden bis heute darunter.

In Marseille gibt es nicht nur ein friedliches Zusammenleben der Kulturen, sondern auch Konflikte, Rassismus und Diskriminierung. Gleichzeitig identifizieren sich viele Einwohner aber stark mit der Stadt. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als bei einem Match von Olympique de Marseille. Wenn der Verein spielt, sind die Straßen der Hafenstadt wie leergefegt. Beim Fußball zumindest scheinen sich die Marseiller einig zu sein und die Unterschiede in Herkunft, Hautfarbe und Religion für 90 Minuten vergessen. In erster Linie bezeichnen sich die Einwohner von Frankreichs zweitgrößter Stadt nämlich nicht als Algerier, Franzose, Italiener, Araber oder Muslim – sondern als Marseiller.

Inga Ramsdorf ist Journalistin bei der Süddeutschen Zeitung. Sie lebt in München.