Das Erste, was ich an der Universität lernte, war, dass es manchmal mehr bringt, sich wie ein Kind zu benehmen als wie eine erwachsene Frau. Ich hatte meine Unterlagen auf den letzten Drücker zusammengerafft, dass noch eine wichtige Unterschrift fehlte, merkte ich erst, als ich am Schalter des Immatrikulationssamts stand. Ich hatte keine Chance, sie noch zu bekommen. Der Beamte am Schalter ließ nicht mit sich diskutieren, schob die Zähne nach vorne und forderte mich auf, im nächsten Semester wiederzukommen. Ich war mit den Nerven am Ende, und ohne es zu wollen, fing ich zu weinen an. Meine Tränen wirkten wie ein Zauberspruch, auf einmal war alles ganz einfach. Der Beamte schaute bestürzt und haute mit fliegenden Händen Stempel auf meine Papiere. Fünf Minuten später ging ich mit dem Studentenausweis in der Hand nach Hause, heilfroh und gleichzeitig wütend. Es war nicht wirklich greifbar, aber ich hatte das Gefühl, dass wir beide – der Beamte und ich – uns falsch verhalten hatten. Der Mann hatte ein bestimmtes Bild im Kopf: Mädchen darf man nicht weinen lassen. Denn Mädchen sind süß und unschuldig und hilflos. Ich hatte mich wie ein kleines Mädchen benommen, er hatte mich automatisch wie eines behandelt.

Ich weiß es nicht sicher, aber einen heulenden Jungen hätte er wahrscheinlich einfach nach Hause geschickt. Dass es unterschiedliche Erwartungen an Männer und Frauen gibt, hat mich bereits genervt, als ich wirklich noch ein kleines Mädchen war. Ich erinnere mich an eine Weihnachtsfeier in meiner Kindheit. Die Kollegen meines Vaters sagten, nachdem sie mich und meine Schwestern betrachtet hatten: „Hübsche Mädchen“. Über meinen Bruder, der keineswegs hässlich war, sagten sie: „Sieht intelligent aus“. Vielleicht sahen wir Mädchen an dem Abend dumm aus. Wahrscheinlich aber wollten die Kollegen einfach anerkennen, dass wir Kinder alle gut abschnitten – in den Bereichen, die ihrer Meinung nach für uns eine Rolle spielten. Eine Rolle spielen. Dass es genau darum geht, habe ich erst ziemlich spät begriffen. Denn Geschlechterfragen fand ich eigentlich immer langweilig. Die Antwort schien so klar zu sein: Zwischen Jungs und Mädchen gab es keine schwerwiegenden Unterschiede. Die einen trugen eben Unterhosen mit Eingriff, die anderen ohne, alle anderen Vorlieben waren eine Frage des Charakters. Sicher hatte ich davon gehört, dass Frauen und Männer vor ein paar Jahrzehnten darum gekämpft hatten, wer im Haus und in der Gesellschaft das Sagen hatte. Dass es einst absurde Gesetze gab wie jenes, das Frauen nur dann einen eigenen Beruf erlaubte, wenn ihre Ehemänner zustimmten. Wie die meisten meiner Freunde dachte ich aber, dass der Kampf vorbei war und dass alle daran Beteiligten gewonnen hatten. Wenn aber jedem und jeder klar ist, dass Menschen in erster Linie Individuen sind und danach erst Männer und Frauen – woher kommen die Geschlechterstereotypen, wie sie in Fernsehserien und Bestsellern auftauchen? Männer und Frauen wollen nur das eine, heißt es da: die einen Sex, die anderen Schuhe. Männer haben Muskeln und bauen Häuser, Frauen haben Sinn fürs Schöne und richten die Häuser ein. Weiß doch jeder, dass das Schwachsinn ist. Oder? Für überraschend viele ist das eher Fakt als Spinnerei. Das merke ich immer dann, wenn ich aus der Rolle falle. Ich bin eine junge Frau, aber ich kugle durchaus gerne mal durch den Dreck, trinke Bier und mache Klimmzüge an Baugerüsten. Manch aufgeklärter Junge, der gerade sein zwölftes Politiksemester durchdiskutiert hat, legte deshalb die Stirn in Falten und fragte: „Du bist aber keine typische Frau, oder?“ Nein. Doch. Keine Ahnung. Eigentlich will ich mir darüber keine Gedanken machen. Aber dann reise ich – wie vor Kurzem – durch ein Land, in dem Frauen die Dreckarbeit machen, in dem mein Freund gefragt wird, für welchen Preis er mich verkaufen würde. Richtig lustig finde ich das nicht. In solchen Momenten bin ich sehr froh, in Deutschland zu leben, wo der Geschlechterkampf größtenteils ausgefochten zu sein scheint. Aber Moment mal. Wie kommt es dann, dass Frauen hierzulande im Durchschnitt 30 bis 40 Prozent weniger verdienen als Männer – für die gleiche Arbeit,wohlgemerkt? Wieso muss ich mich, realistisch gesehen, als Frau noch immer zwischen Karriere und Kind entscheiden? Und wieso waren alle meine bisherigen Chefs Männer? Ich habe die Antworten nicht. Aber die Fragen machen mir manchmal Angst.