Auf dem steilen Weg die Brobyn Street hinauf hält Moses Browne mehrfach inne. Zehn Gallonen Wasser, also etwa 45 Liter, ziehen ihn hinunter. Er stellt die zwei Kanister links und rechts von sich. Stützt sich darauf. Lässt den Kopf hängen. Verharrt bewegungslos und sieht mit einem Mal aus wie ein gebrechlicher alter Mann.

Wenn der 17-jährige Sierra Leoner nicht gerade in der Schule ist – Montag bis Freitag von acht bis halb zwei – oder Fußball spielt – Sonntagnachmittag –, dann schleppt und verkauft er Wasser. An sieben Tagen in der Woche. So wie unzählige junge Leute in Freetown.

Freetown, Schauplatz des Kriegsfilms Blood Diamond mit Leonardo DiCaprio, ist heute die Stadt der gelben Wasserkanister. Wenn andernorts vielleicht ein bestimmter Hut oder eine besondere Handtasche ins Auge sticht, sind in Sierra Leones Hauptstadt die grellen Plastikbehälter das Accessoire Nummer eins. 24 Stunden am Tag, jeden Tag. Weil das Besorgen von Wasser ein täglicher Kampf ist.

Auf Moses Brownes Knie versteckt ein Pflaster einen tiefen Schnitt nur halb. Ein spitzer Stein lag auf dem Fußballfeld. Der schmale Junge, dessen Körper mehr die Arbeit als das Spiel geformt hat, ist an diesem Samstag wie jeden Tag um halb sieben aufgestanden, hat sein Gesicht mit einer Hand voll Wasser gewaschen, für 1000 Leones, umgerechnet 25 Cent, Cassavablätter und Reis gegessen.

Während des Frühstücks stahl jemand die Vorderachse seines Wasserwagens. Deshalb musste Moses sich von einem Freund eine Achse ausleihen, das wird ihn einen Kanis-ter Wasser kosten. So eine Vorderachse ist wertvoll, sie kostet mit 4500 Leones etwa einen Tagesverdienst. Gegen neun Uhr macht er sich auf zur ersten Runde. Fünf bis sechs Stunden ist er täglich unterwegs. Er schiebt den Wagen die Macauley Street entlang, biegt links in die breite Circular Road ein. Am Rand der Straße haben die schmalen Räder der Wasserwagen tiefe Rillen in die Fahrbahn gegraben.

Nur gut die Hälfte der sechs Millionen Sierra Leoner hat Zugang zu sauberem Wasser. Be-obachter glauben, das westafrikanische Land werde die sogenannten Millenniumsziele um Längen verfehlen, welche die Vereinten Nationen formulierten. Bis zum Jahr 2015 soll unter anderem der weltweite Wasser- und Hygienenotstand halbiert werden. Das heißt in Zahlen, man wäre froh, wenn dann „nur“ noch 600 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser hätten.

Aber in Sierra Leone ist wenig Fortschritt spürbar. In der Hauptstadt heißt eine der Hauptursachen für die Wasserknappheit: Krieg. Und das, obwohl der Bürgerkrieg, der 1991 begann, seit fünf Jahren beendet ist. Die Folgen bleiben bestehen. Damals zwangen jugendliche Kämpfer, die unter Drogeneinfluss grausam wüteten, die Menschen scharenweise in die Flucht. Viele flohen in die Hauptstadt und kehrten auch nach Kriegsende nicht mehr zurück. In Freetown wohnten vor dem Krieg 600 000 Menschen, heute sind es 1,2 Millionen. Die Wasserversorgung ist jedoch nicht mitgewachsen.

Sie kommt weiterhin aus einer einzigen Quelle, dem Guma-Stausee. Am Rand der Stadt liegt er, ein natürlicher See, hoch oben inmitten von fast unberührtem Wald. Sechs Flüsse aus den umgebenden Hügeln speisen den Stausee. Es ist ganz still. Nebel erstickt Töne. Nur der Schrei eines palm nut bird stößt hin und wieder hindurch. Der See fasst rund 24 Kubikkilometer Wasser, das ist die Größe des halben Bodensees. Als er am 4. Februar 1967 eröffnet wurde, war Joselyn Williams schon dabei. Der 62-jährige Wärter notiert die wirklich wichtigen Dinge in einem zerknitterten Adressbuch: „Regen kam am 16. April 2007, Montag.“

Nachdem das Wasser vom See durch die verschiedenen Reinigungsbecken geschleust wurde, fließt es durch ein einziges Rohr in Richtung Stadt. Das rostige Überlandrohr mit etwa 30 Zentimetern Durchmesser verläuft am Rand einer Straße. Vor dem Krieg war sie geteert, die wohlhabenden Sierra Leoner fuhren darauf mit mehr als 100 Kilometern in der Stunde an die herrlich weißsandigen Atlantikstrände. Heute schleichen Autos über roten Sand, rumpeln durch Schlaglöcher. Dort, wo kleine Siedlungen stehen, sitzen Frauen auf dem Rohr, Kinder essen, Männer dösen darauf.

Schon wenige hundert Meter nach der Anlage klaffen die ersten Risse im Rohr. Sie sind so groß, dass Anwohner zu jeder Zeit ihre Kanister füllen können, der Rest versickert ungenutzt im Sand. Bis in den westlichen Teil Freetowns, der dem Stausee am nächsten liegt, fließt das Wasser vornehmlich dank Schwerkraft. Das ist einfach und billig. Der Osten der Stadt dagegen, wo seit dem Krieg die meisten Einwohner leben, liegt höher und damit trocken. Das ist teuer, technisch aufwendiger: Der Wasserdruck ist zu niedrig, Wasser müsste gepumpt werden. Die Wassermenge reicht einfach nicht für alle. Der Stausee ist nur für 400 000 Menschen angelegt. Deshalb verteilen Träger wie Moses Browne das saubere Wasser in der Stadt an diejenigen, die bereit sind, dafür zu zahlen.

Darrell Thompson zählt zu den Privilegierten, die in einem der 14 000 ans Wassernetz angeschlossenen Haushalte leben. Seine monatliche Wasserrechnung beträgt rund 12 000 Leones, etwa drei Euro. Thompson ist der Direktor der Guma Valley Water Company (GVWC), die für die Wasserversorgung von Freetown zuständig ist. Die Farbe mancher Papierstapel in seinem schlichten Büro im Stadtzentrum lässt vermuten, dass seit der Gründung der halbstaatlichen Firma im Jahr 1961 manches liegen geblieben ist. Thompson sieht die einzige Lösung für das Wasserproblem in einem weiteren Staudamm: „Das wäre die einzige sichere Langzeitlösung. Die Machbarkeitsstudien am Orogu-Fluss sind abgeschlossen, es ist nur eine Frage des Geldes.“ Abgesehen davon, dass Sierra Leone jedes Jahr im zweifelhaften Wettbewerb um den Titel des ärmsten Landes der Welt steht und die „Frage des Geldes“ also ein veritables Problem darstellt, stimmen ausländische Experten Thompson zu. Es bedarf langfristig neuer Reservoirs. Doch heben Spezialisten hervor, dass es eine Menge weiterer Probleme gibt. Morag Baird von der britischen Behörde für Entwicklungszusammenarbeit DFID sagt: „Der Mangel an Wartung und Reparatur – neben den mutwilligen Zerstörungen durch Wasserdiebe – führt dazu, dass Unmengen an Wasser verloren gehen. Das Guma-Reservoir selbst hat genug Kapazität für 50 Liter pro Person und Tag, in der Theorie. Tatsächlich reicht es für höchstens 25 Liter pro Person.“ Korruption, ein Generalverdacht, dem afrikanische Länder im Zweifelsfall sofort unterliegen, spielt dem Weltbank-Berater Franklin Bassir zufolge hier keine Rolle. „Die größten Probleme liegen im Management. Best-Management-Praktiken, Sorgfaltspflicht, ein funktionierendes Rechnungswesen könnten eine Menge Gelder für Wartung frei machen.“

Moses Brownes selbst gebauter Wasserwagen steht in der Circular Road. Ein achtjähriger Junge passt darauf auf, während Moses mit einem Dutzend anderer Leute in einer Seitenstraße vor einem öffentlichen Hahn sitzt und wartet. Der Kleine wird am Ende des Tages 1000 Leones von Moses erhalten und damit ein weiteres Glied in einer Kette von Kleinstunternehmern sein, die mit Wasser ihren Lebensunterhalt verdienen. Die Gespräche drehen sich um Wasser. „Wie viele Kanister hast du?“ „Beeil dich mit deinem Zeug!“ „Du da, kannst du mir nachher beim Tragen helfen?“ „Hol die Vorderachse, sonst wird sie geklaut!“

Als Moses sich mit vollen Kanistern auf den Weg macht, bricht eben ein Streit aus. Das geschieht häufig und endet gerade nachts oft in Schlägereien; daher sind an vielen Hähnen Schilder angebracht. Darauf steht: „Prügeln verboten.“ Oft werden auch Strafen bis zu 2000 Leones verhängt. Moses Browne hat fünf Geschwister, er ist der Jüngste, und bei der Familie war kein Platz mehr. Jetzt wohnt er in einer WG. „Auf einem Konzert habe ich Recenc meine Situation erzählt, er macht Hiphop und Reggaemusik und studiert. Und jetzt wohne ich bei ihm, wir sind insgesamt sechs. Drei Ältere, die zahlen die Miete, und drei Jüngere, die zahlen nichts.“ Das stimmt nicht, Moses zahlt seinen Beitrag mit Wasser, jeden Tag bringt er 100 Liter, die für sechs Personen reichen müssen. Zum Vergleich: In Deutschland und England verbraucht eine Person mindestens 120 Liter Wasser, in den USA gar mehr als 200 Liter. Jeden Tag.

An der einzigen Straße, die aus Freetown hinausführt, liegt das Rokupa-Krankenhaus. Mit zwei Ärzten und vierzig Betten ist der Bungalow das größte staatliche Hospital im Osten der Stadt, wo die Mehrheit der 1,2 Millionen Einwohner lebt. Wenn Dr. Alhaji Turay, der medizinische Direktor, für eine Patientenvisite seine Hände waschen will, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Wasserhahn trocken bleibt. „Das Wasser läuft ein, zwei Monate, dann ist es wieder vorbei“, sagt er. Unter dem Waschbecken steht ein Eimer, das Wasser darin holen Arbeiter entweder von einem öffentlichen GVWC-Hahn mehr als eine halbe Meile entfernt. Oder aus dem Brunnen, der kürzlich hinter dem Krankenhaus gebohrt wurde. Das Krankenhaus hat ihn aus Krankengebühren finanziert. Er ist tagsüber offen, der rostige Deckel liegt im Staub.

Die Vorstellung ist unangenehm: Das Wasser aus dem Krankenhausbrunnen ist nicht sauber genug zum Trinken, aber bei Operationen wird es zum Reinigen verwendet. „Wir benutzen na-türlich viel Desinfektionsmittel“, sagt Dr. Turay. Er spricht leise und lächelt viel. „Wir sind berühmt für Durchfall“, sagt er noch. „Durchfall-erkrankungen“, erklärt er, „verursacht durch schmutziges Wasser, sind ein wichtiger Faktor für die hohe Kindersterblichkeit.“ Sierra Leone hält den traurigen Weltrekord: Von 1000 Kindern sterben 282, bevor sie fünf Jahre alt geworden sind. Dr. Turay erklärt auch, wie eng sauberes Wasser mit Hygiene zusammenhängt: „Ein großer Teil der Wasserverschmutzung – sofern nicht schon an der Quelle Bakterien drin schwimmen – passiert während des Transports, zum Beispiel durch ungewaschene Hände oder Behälter, die neben Latrinen stehen.“

Wenige Kilometer stadtauswärts lebt Mabinti Koroma, seit sie im Jahr 2000 vor dem Krieg nach Freetown floh. Die 17-Jährige ist die Nichte eines Dorfimams und Kleinhändlers für Zement und Türschlösser. Sheikh Said Fuad Kamara kam mit seinen 13 Kindern, drei Frauen, einer Schwiegermutter und eben der 17-jährigen Nichte aus dem Norden. „An einem Nachmittag kamen die Rebellen ins Dorf. Wir haben uns alle versteckt, und am nächsten Morgen ganz früh sind wir gerannt. Wir haben nichts gepackt, jeder hatte nur die Kleidung am Leib.“ Sie liefen drei Tage, dann nahmen sie den Bus und blieben schließlich an der Einfahrtstraße nach Freetown hängen. Ähnlich erging es mehr als einer halben Million von Flüchtlingen, und die meisten siedelten hier im Osten der Stadt. Mabinti Koroma geht täglich Wasser suchen, meist mit anderen jungen Frauen der Familie. Es gibt wenige öffentliche Hähne, und wenn daraus Wasser fließt, heißt es stundenlang Schlange stehen, rund um die Uhr. Für manche bleiben nur die Nachtstunden. „Es ist nicht ungefährlich, nachts herum-zulaufen. Aber was sollen wir tun?“, sagt Sheikh Kamara. Oft suchen die Frauen nach Lecks in Rohren oder laufen zu den wenigen Nachbarhäusern, die private Leitungen haben, wo sie gelegentlich Wasser schöpfen dürfen. Auf dem Land sei es besser gewesen, erinnert sich Mabinti Koroma. Auch wenn’s nur wenige Brunnen gab und die Menschen stundenlang laufen mussten.

Samstagnacht, Moses Browne hat Pläne. Ein paar Hiphop- und Reggaemusiker treten in der Nähe auf, darunter sein Freund Recenc. Eine Sackgasse dient als Konzertsaal. Vor dem Eingang ste-hen junge Männer Anfang zwanzig. Sie sehen so aus wie die Rebellen, die während des Kriegs oft auch in deutschen Nachrichten zu sehen waren, grimmige Blicke, verschränkte Arme, Bandanas um die Stirn, dunkle Sonnenbrillen in der Nacht, das volle Gangsta-Programm. Moses’ Freund wird später seinen Reggaesong Dirty System singen, da heißt es auch: „De system is too ruff an dread / Sierra Leonians / as you know we have no good roads, / Electricity and water supply / So Mr.Government / You need to change de system.“

Morgen früh wird Moses Browne wieder aufstehen, Wasser schleppen und davon träumen, sich eines Tages eine eigene Wasserleitung leisten zu können.