Sie hielten ihn wie ein Tier, mit einer Kette um den Hals. Manchmal schlief er im Sitzen, damit die Metallfessel ihm nicht die Luft abdrückte. Tagsüber marschierten sie durch den Urwald, von einem Lager zum nächsten. Gewalttouren im Gänsemarsch, an andere Geiseln gekettet. 24 Stunden hatten die Kämpfe zwischen den Militärs und der Guerillagedauert, 150 gegen 1.500 Mann, auf beiden Seiten gab es Tote. Am Ende schleppten die Guerilleros den damals 23-jährigen Krankenpfleger und Soldat William Perez in das Dickicht des kolumbianischen Urwalds. Zehn Jahre und vier Monate lang hielt man ihn dort fest. 3.768 Tage. Ohne zu wissen, ob er seine Brüder und seine Eltern je wiedersehen würde. Sein Hals wurde schwarz und wund von der Kette.

Das erste Jahr über erfuhr er nichts von dem, was in der Welt geschah. Dann bekam er ein kleines Kurzwellenradio. Und hörte zum ersten Mal die Sendung »Las Voces del Secuestro«, die »Stimmen der Entführung«. Es war ein Sonntag, kurz nach Mitternacht, die Waffen schwiegen. Perez konnte es nicht glauben: Es gab Menschen, die den Entführten im Dschungel Nachrichten schickten! Und von da an hatte er einmal in der Woche eine Verabredung – mit seinem Radio, dicht ans Ohr geklemmt. In der Hoffnung auf Botschaften von der Familie. Die erste Nachricht, die seine Mutter ihm schickte, verstand er kaum, weil er weinend zusammenbrach.

»Bienvenidos, liebe Hörer da draußen im Urwald.« Herbin Hoyos, ein kleiner Mann mit schwerer Harley-Davidson-Lederjacke, sitzt im Studio von »Radio Caracol« in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens. Seit 15 Jahren begrüsst er so seine Hörer. Samstags von kurz nach Mitternacht bis morgens um sechs Uhr rufen Verwandte, Freunde, Bekannte von Entführten bei »Radio Caracol« an. Viele warten stundenlang in der Leitung, bis sie endlich auf Sendung sind. Über 4.000 Geiseln gebe es in Kolumbien, erzählt Hoyos. Die Regierung sagt, es seien 125. Hoyos Vermutung: »Präsident Uribe präsentierte diese Zahlen bei einer Europareise, um Investoren anzulocken. Die kommen nur, wenn Kolumbien sicher scheint.« Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte, denn von vielen Gefangenen gibt es seit Jahren kein Lebenszeichen, andere wurden gegen Lösegeld freigelassen, ohne dass die Behörden davon erfuhren.

Seit Jahrzehnten erdrückt der Konflikt das Land. Rechte Paramilitärs haben ganze Landstriche in ihre Gewalt gebracht, durch Mord und Vertreibung. Sie liefern sich Schlachten mit der linken Guerilla, die den Staat und seine Armee bekämpft. Entführungen bringen den Kämpfern Geld für Waffen. Oder die Möglichkeit, Geiseln gegen verhaftete Compañeros einzutauschen. Der Großteil der Entführten ist in der Hand der FARCGuerilla, der Rest wird von der marxistischen ELN, den Paramilitärs oder gewöhnlichen Erpressern festgehalten.

Die Nächte im Urwald seien düster und lang gewesen, sagt Perez. Seine dunklen Augen sind so sanft wie die Stimme. »Herbins Sendung gab mir Kraft. Ich wusste, dass eine andere Welt existierte, dass meine Familie mich nicht vergaß. Sie sangen sogarGeburtstagsständchen.« Als die Guerilla Perez verschleppte, hatte er acht Nichten und Neffen. Als er vor knapp einem Jahr in der »Operación Jaque« zusammen mit der Politikerin Ingrid Betancourt befreit wurde, waren es 21. Überrascht war er nicht: »Meine Mutter hat mir alles im Radio erzählt«, sagt er. Nach einer anderen Nachricht weinte er drei Tage: »Mein Vater starb kurz bevor ich befreit wurde.«

Wer zu Hoyos ins Studio will, muss durch Sicherheitskontrollen wie am Flughafen. Eine imErdgeschoss, eine im siebten Stock. Autos werden von Spürhunden beschnüffelt, damit kein Sprengstoff in die Garage im Keller gelangt. Drei Attentate hat Hoyos schon überlebt, er hat ständig einen Bodyguard dabei, trägt eine schusssichere Weste.

Es war seine eigene Entführung, die Hoyos auf die Idee zu der Sendung brachte. Vor 15 Jahren verschleppten die Guerilleros der FARC den damals schon bekannten Moderator von »Radio Caracol« in den Urwald, damit er Propaganda-Nachrichten im Radio verliest. Sie brachten ihn in ein Lager, in dem schon ein Gefangener saß. Ausgemergelt, an einen Baum gekettet, mit weißem Bart, einem Radio am Ohr, unter einer Plastikplane im Regen. »Warum macht ihr Journalisten nie etwas für die Entführten?« fragte der Mann. Hoyos schwor, genau das zu tun, wenn er denn überleben würde. 17 Tage war er gefangen, bis das Militär eine Befreiungsaktion startete: »Es ist ein Wunder, dass sie mich nicht erschossen haben, schließlich sahen wir in unserer Tarnkleidung aus wie Guerilleros«, sagt Hoyos. Zurück in Bogotá begann er mit den »Voces del Secuestro«. Zuerst waren es nur 15 Minuten, in denen Verwandte Nachrichten an ihre Liebsten verlesen konnten. Doch Hoyos merkte schnell, dass die Sendezeit nicht reichte. Heute genügen sechs Stunden kaum. Und das, obwohl die Anrufer gebeten werden, sich kurz zu halten. »Man gewöhnt sich daran, private Dinge im Radio zu erzählen«, sagt Miriam de Mora. Ihr Sohn Juan Camilo wurde am 19. Januar 2006 entführt. De Mora sitzt in ihrem Wohnzimmer auf der Couch, auf der Kommode hinter ihr liegt eine aufgeschlagene Bibel. Durchs Fenster sieht sie die Andenkette, an die sich Bogotá schmiegt. Im Blick hat sie auch eine weiße Marienstatue, die auf dem Berg und mitten im Wald steht. Früher mochte sie den Ausblick.

Was man nicht sieht, ist die Straße am Fuß der Statue. Dort wurde Juan Camilos Auto gefunden. Der Schlüssel steckte. Zwei Männer hatten ihn auf einem Parkplatz abgepasst, dafür gibt es Zeugen. Und dann nichts mehr. »Es heißt, die Guerilla rekrutiert Zwangsarbeiter«, sagt Miriam, »vielleicht ist Juan Camilo dort oben in den Bergen.« Vor ein paar Monaten hatte sie eine Nachricht auf der Handy-Mailbox: Schüsse, Schreie, eine Kampfszene. Vielleicht hatte Juan Camilo versucht, sich bei den Eltern zu melden? Jeden Samstag rufen de Mora und ihr Mann bei »Radio Caracol« an. Diesmal sind sie um 1 Uhr 26 auf Sendung. »Mein Herz weint, du fehlst mir so.«

Wie die meisten Angehörigen spricht Miriam anfangs mit fester Stimme und endet in Tränen. Über das Radio senden die Anrufer Liebeserklärungen, Neuigkeiten und den Schmerz des Vermissens in die Wälder Kolumbiens, immer in der Ungewissheit, ob der Adressat noch lebt, ob die Nachricht irgendwo aus einem kleinen Weltempfänger knistert. »Die meisten Entführer erlauben den Geiseln, Radio zu hören«, sagt Hoyos. »Denn seit es unsere Sendung gibt, bringen sich kaum noch Gefangene um, früher waren es zwölf von 100. Das Radio gibt ihnen Hoffnung.« Einmal bat ihn sogar ein Guerillero, die Angehörigen einer Geisel ans Radiomikro zu holen, um einen Selbstmord zu verhindern.

»Meine Mutter im Radio zu hören, hielt mich am Leben«, sagt auch Perez. Einer der ersten Wege in der Freiheit führte ihn zu Hoyos ins Studio. »Wir umarmten uns«, sagt Perez und schweigt. Der Moment scheint ihm noch immer nahe zu gehen. »El abrazo de la libertad«, die Umarmung der Freiheit, nennt Hoyos dieses Ritual. Über 11.000 ehemalige Geiseln, die es zurück ins Leben schafften, hat er schon umarmt. »Jahrelang kannte ich von Hoyos nur die Stimme. Ich stellte mir einen großen Mann vor und war überrascht, wie klein er ist«,sagt Perez und grinst. Der mutige Journalist verspricht, erst aufzuhören, wenn alle Entführten in Kolumbien befreit sind. Vermutlich ist das Geiselradio die einzige Sendung der Welt, deren Macher darauf hoffen, irgendwann keine Hörer mehr zu haben.

Karen Naundorf (33) – ist Korrespondentin des Weltreporter-Netzwerks. Sie lebt in Südamerika und berichtet von dort aus für fluter, die Zeit, das SZ-Magazin und Neon