Als Xin Wei anfing, von Shen-zhen zu träumen, war er noch ein kleiner Junge. Shenzhen war für ihn die Stadt der bunten Plastikautos, der Spielzeugsoldaten, Federballschläger und all der anderen Geschenke, die seine Eltern mitbrachten, wenn sie zum Frühlingsfest nach Hause kamen. „Sie hatten immer Geld dabei und Sachen, die es bei uns nicht gab“, erinnert er sich. „Meine Freunde haben mich sehr um meine Eltern beneidet.“ Zwei Wochen war die Familie im Haus von Xins Großeltern vereint, aß, trank und erzählte, dann brachen die Eltern auf, fuhren vom Busbahnhof Pingtang 800 Kilometer nach Südosten, nach Shenzhen, „in die Fabrik“. Xin konnte sich unter einer Fabrik nichts vorstellen. Aber es musste schön sein.

Heute weiß er es genauer. Der 22-Jährige arbeitet in einer Produktionshalle im Shenzhener Fabrikbezirk Gaobu. Eine Woche klebt Xin Turnschuhsohlen ans Obermaterial, die nächste näht er Innenfutter an Außenleder, immer abwechselnd. Sein Tag ist in Zwanzig-Sekunden-Einheiten gegliedert, von links nehmen, nach rechts weitergeben. Manchmal wird daraus eine Art Trance, in der er nicht mehr wahrnimmt, wie laut die Nähmaschinen rattern oder wie der Kleber stinkt. Muss er auf die Toilette, hat er nicht mehr Zeit als bei einem Boxenstopp in der Formel Eins – im Laufschritt aufs Klo. Xin mag die Bewegung, aber diese Extravaganz kann er sich höchstens einmal täglich leisten, sonst erregt er die Aufmerksamkeit des Vorarbeiters. 1100 Yuan, rund 110 Euro, bekommt er im Monat. Kein Vermögen, kein Traumjob, aber auch nicht das Übelste, was einem Kind aus der armen Provinz Guizhou passieren kann. „Kein schlechtes Leben“, findet er.

Kein schlechtes Leben – diesen Traum verbinden viele Chinesen mit Shen-zhen. 8,3 Millionen Menschen leben offiziell in der Stadt, dazu kommen mehrere Millionen Wanderarbeiter, deren genaue Zahl auch die Stadtregierung nicht kennt. Da Shenzhens Wirtschaft jährlich um rund 15 Prozent wächst, kommen pro Jahr rund eine Million neue Arbeiter dazu. Shenzhens Hafen wickelt ein Siebtel der chinesischen Im- und Exporte ab und ist mit knapp 20 Millionen umgeschlagenen Containern im Jahr der viertgrößte der Welt.

Vor 30 Jahren lebten etwa 30 000 Menschen in der Stadt an der Grenze zu Hongkong. Shenzhen war arm und rückständig wie alles im China der ausgehenden Mao-Zeit. Heute weist die Stadt mit umgerechnet rund 6244 Euro das neben Hongkong höchste Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt im ganzen Land auf. Jeden Monat eröffnet ein neues Luxushotel, neben den Hochhäusern beherrschen riesige Kräne die Skyline der Stadt, die wegen der großen Luftverschmutzung die meiste Zeit in einer Dunstwand zu verschwimmen scheint.

1979 beschloss der neue Führer der Kommunistischen Partei, Deng Xiaoping, die Gründung von vier Sonderwirtschaftszonen – mit Stacheldrahtzaun vom restlichen China abgetrennte Marktwirtschafts-Gehege, in denen handverlesene Kader internationale Investoren anlocken und bei ihrer Arbeit beobachten sollten. Eine davon war Shenzhen, ein Küstendorf, dessen Name „Tiefer Wassergraben“ bedeutete und von den Entwässerungsrinnen zwischen den Feldern stammte. Die Zeit des Ackerbaus sollte jedoch bald vorbei sein. Denn wenige Kilometer entfernt warteten Hongkonger Unternehmer auf eine Gelegenheit, ihre Produktionen ins billigere China auszulagern. Hongkongs Bedarf an billigen Arbeitskräften und Pekings Bereitschaft, ausländischem Kapital in Shenzhen jede Freiheit zu lassen, erwiesen sich als perfekte Kombination. Die Stadt wuchs. Aus dem Hinterhof Hongkongs wurde das Schaufenster der chinesischen Wirtschaftsreformen. Aus dem Fischerdorf wurde eine Megastadt. 

Genau genommen ist Shenzhen gar keine Stadt, sondern ein rapide expandierendes Land mit verwaschenen Grenzen und einer sehr großen Hauptstadt. Im Zentrum dehnen sich die Reichenviertel immer weiter aus. Hier tragen die Wohnblocks Namen wie „Chianti“, „Manhattan“ und „Fontainebleau“. Im Rest des Landes namens Shenzhen, in den Fabrikzonen der Vorstädte und der weiter entfernten Landkreise, die schrittweise von Shenzhen assimiliert werden, wird geschuftet wie in Mitteleuropa zu Zeiten der Industrialisierung. In Shenzhen-Stadt bedienen Vergnügungsparks das Fernweh einer neuen Mittelschicht, die sich schon bald echte Fernreisen wird leisten können: In Window of the World sind die wichtigsten Bauwerke der Welt, in Splendid China Miniaturen der wichtigsten chinesi-schen Sehenswürdigkeiten zu sehen. Hier liegen auch erstklassige Museen wie das Contemporary Art Terminal, in dem die Stars unter Chinas jungen Künstlern ausstellen. Der Fotograf Yang Yong zum Beispiel. Der mollige 31-Jährige ist besessen vom Shenzhener Dauerumbruch in Hochgeschwindigkeit. Ob landflüchtige Arbeiter, Buccaneer-Unternehmer oder über Pop-Art plaudernde Bildungsbürgerkinder – die Fortschrittsmaschine Shenzhen bildet das Drama des chinesischen Aufstiegs wie ein Mikrokosmos ab. „Die Stadt ist ein Spiegelbild des modernen China“, sagt Yang Yong. „Die Leute kommen aus dem ganzen Land hierher. Die Stadt wandelt sie um. Shenzhen ist ein Transformator.“

Rund eine Million Wanderarbeiter strömen jährlich nach Shenzhen. Die meisten landen in der Beton- und Asphaltwelt an den endlos ausfransenden Rändern der Stadt, in Orten wie Gaobu. Dort leben sie in Wohnheimen oder mieten in einer von Hunderten Kellerherbergen eine Schlafbucht, die eher einem Regalfach als einem Bett gleicht. Acht Yuan (80 Cent) zahlen sie pro Nacht für 60 mal 180 Zentimeter. Zwischen zehn und zwanzig Menschen teilen sich ein Zimmer, einen Wasserhahn, eine schmale Fensterluke für Luft und Licht. Im Schlaf umklammern sie die Taschen mit ihren Habseligkeiten. „Was soll daran schlimm sein?“, fragt Herr Zhou, einer der Wohnheimbetreiber. „Die Menschen, die hier wohnen, kommen aus Verhältnissen, in denen sie auch nicht anders leben.“

Anfangs kamen die billigen Arbeitskräfte vor allem für Unternehmer aus Hongkong gerade recht. Die britische Kronkolonie hatte sich in den Sechzigern und Siebzigern zum Weltlieferanten für Kleidung, Schuhe, Spielzeug und Elektrogeräte entwickelt. In den Achtzigerjahren zog dann praktisch die gesamte Industrie der Stadt aufs chinesische Festland um. Shenzhen blühte auf als der schmutzige Hinterhof der reichen Nachbarstadt. Doch seit in Shenzhen Mikroprozessoren und genmanipulierter Reis hergestellt werden, hat die Stadt die schmutzige Billigproduktion von Barbiepuppen und Turnschuhen ins Hinterland abgeschoben. Heute spielt die Metropole eine Rolle wie früher Hongkong, sie verteilt ihren Wohlstand in Form von schmutziger Arbeit im Hinterland. Dort sieht es heute aus wie in Shenzhen vor zwanzig Jahren. Gaobu ist so ein Fall. 

Gut eine Dreiviertelstunde von Shenzhen-Zentrum entfernt gibt es in Gaobu nur eine richtige Straße. Die Betonkästen an den aufgeplatzten Bürgersteigen sind voll gestopft mit Handy-Läden und billigen Restaurants – für die Arbeiter aus den Schuhfabriken, Färbereien, Großwäschereien. Hin und wieder geht ein Nebenweg ab und führt in die kleinen Wohnbezirke der Stadt. Ein paar hundert Schritte die nur halb geteerte Straße runter steht man auf verschlammtem Acker. In der Ferne, neben dem verlorenen Busbahnhof, sieht man die Fabriken. Die meisten Menschen in Gaobu leben in Arbeiterwohnheimen gleich neben den Werkhallen. 

Im Zentrum thront das einzige Hotel der Stadt: das Oriental Mandarin. In dem Hotel, dessen Name bedenklich nah an das berühmte Mandarin Oriental angelehnt ist, können sich Geschäftsmänner aus Hongkong, Taiwan und Korea ihren Aufenthalt versüßen. In der opulenten Lobby aus falschem Marmor lockt ein wenig dezentes Hinweisschild in „Fifis Massagesalon“ und „Kikis Sauna“. Rund um das Oriental Mandarin haben sich auch die einzigen Läden der Stadt angesiedelt, die etwas anderes als billige Handys, wohlfeile Nudelsuppe und billige Turnschuhe anbieten. Denn hier, in den Intershops des neuchinesischen Manchesterkapitalismus, gibt es erlesene Geschenkartikel für die Geschäftsleute: französischen Cognac, Schweizer Schokolade, Haifischflossen; alte Ginsengwurzeln für viele hundert Euro pro Stück und zermahlene Hirschgeweihe: Beides soll gut sein für die Potenz. Das ist die Welt von Kenny Lai. Er hat geschafft, wovon Wanderarbeiter wie Xin Wie träumen. Der rundliche Überseechinese mit Wurzeln in Jakarta, Singapur und Hongkong ist ein gemachter Mann. Er hat aus der kleinen Hongkonger Wäscherei seines Vaters ein Großunternehmen gemacht. Heute gehören ihm drei Fabriken mit 5000 Arbeitern und er fährt einen Mercedes S-Klasse mit lederbespanntem Lenkrad. Er genießt seinen Erfolg, vergisst dabei aber nicht, dass Shenzhen nicht nur ehrliche Arbeitssuchende anlockt. Deshalb lässt er sich nicht fotografieren, aus Angst vor Entführungen. 

Vergnügungen gibt es in Shenzhen nach Preisklassen sortiert. „Früher war Shenzhen ein Fischerdorf, aber Netze gibt es heute nur noch an den Beinen der Huren“, kalauert es durch die Stadt, mit Sex wird in Shenzhen so offen gehandelt wie mit gefälschten Louis-Vuitton-Taschen, kopierten DVDs, nachgemachten Rolex-Uhren oder ausgestopften Hello-Kitty-Figuren. Die billige Variante ist als Friseursalon getarnt, wo blondierte Mädchen in Kunstlederröcken hinter dünnen Vorhängen für 20 Yuan Hand anlegen. „Ist halb so schlimm“, sagt eine junge Frau im Hafenviertel Yantian und lacht. 26 sei sie, erzählt sie, seit zwei Jahren in Shenzhen. Ihre Eltern, Bauern in der Provinz Ningxia, glauben, sie arbeite in einer Fabrik. „Aber hier verdiene ich doppelt so viel.“ Deutlich mehr bekommen die Mädchen der Hotels, Karaoke-etablissements oder Badehäuser wie „Kikis Sauna“, in denen Unternehmer wie Kenny Lai Geschäfte anbahnen und mit scharfem Moutai-Schnaps begießen. „Viele Mädchen vom Land sehen darin eine Abkürzung zum Wohlstand, leichter als jahrelange Fabrikarbeit“, sagt Liu Kaiming, Gründer der Arbeiterrechtsorganisation Shenzhen Contemporary China Research Centre. Ihr Traum sei, zur Dauergeliebten eines wohlhabenden Geschäftsmanns zu werden. Dann könnten sie auf eine Wohnung in einer der teuren Wohnsiedlungen hoffen, die Shenzhener spöttisch ernaicun nennen, „Zweitfrauendörfer“. Dort parken viele Reiche ihre Geliebten.

Diese Seite Shenzhens würden die Offiziellen am liebsten geheim halten, Gaobu, Kennys Fabrik oder Xin Weis Wohnheim soll am besten niemand zu sehen bekommen. Im Inneren Shenzhens, in der Hauptstadt der Wirtschaftswunderzone am Südzipfel des Landes, zeigt sich China dagegen so, wie es sich selbst gern sieht. Ein Wunsch-Selbstporträt, das vergessen macht, dass Shenzhen eigentlich international als Inbegriff ganz anderer Arbeitsbedingungen gilt: Sweatshops, in denen Menschen Sklavenarbeit in moderner Form verrichten, Ausbeutung, die frei gewählt, aber von der Armut erzwungen ist. „Es gibt in China fortschrittliche Arbeitsgesetze, aber sie werden nur selten eingehalten“, sagt Arbeiterrechtler Liu Kaiming, „und die Arbeiter haben nur wenig Möglichkeiten, sich zu wehren.“ Seit Jahren protokolliert er die Produktionsbedingungen in der „Werkbank der Welt“, versucht herauszufinden, wie es hinter den Mauern aussieht, hinter denen sich die Fabriken vor neugierigen Blicken verbergen wollen. „Zu den größten Problemen gehört die Sicherheit“, erklärt Liu. Oft hantieren Arbeiter ungeschützt mit giftigen Chemikalien, offenen Sägen oder schlecht abgedichteten Drähten, inhalieren Dämpfe, Schleifstaub oder die Abgase dieselbetriebe-ner Maschinen. Bekannt wird das meist erst, wenn es zu spät ist, die Behörden drücken häufig ein Auge zu.

Vetternwirtschaft und Bestechung sind Leitmotive des Shen-zhener Kapitalismus. Doch ausgerechnet dort, wo einst der Kommunismus seinen inhärenten Widersprüchen erlegen ist, entdeckt nun auch der Kapitalismus die seinen. Denn in Shenzhen entsteht derzeit auch die Gegenbewegung zur Ausbeuterproduktion, ein neuer Klassenkampf: Die Arbeiter erkämpfen sich ihre Rechte zurück. „Je mehr anspruchsvolle Produkte in China hergestellt werden, umso mehr qualifizierte Arbeiter werden gebraucht“, sagt Liu. „Die Arbeiter wissen, was sie wert sind.“ Fabriken, die für schlechte Zahlungsmoral oder unfaire Arbeitsbedingungen bekannt werden, haben es zunehmend schwer, Angestellte zu finden. „Die Arbeiter haben Handys und sprechen sich ab, um Löhne und Arbeitsbedingungen zu vergleichen“, sagt Liu. „Ausbeutung spricht sich herum, und die zweite Generation von Wanderarbeitern geht damit selbstbewusster um als noch ihre Eltern.“

So wie Xin Wei, der mit seinen Eltern den Platz und die Rolle getauscht hat: Sie wohnen in ihrem Heimatdorf in Guizhou, er arbeitet in Shenzhen. Und seine Fabrik ist geradezu luxuriös im Vergleich zu den Sweatshops, in denen seine Eltern früher arbeiteten. Der Schichtdienst ist geregelt, das Wohnheim sauber, das Kantinenessen reichlich und im Hof gibt es Basketballplätze. „Ich habe hier viele Freunde“, erzählt er. Acht Arbeiter teilen sich ein Zimmer und einen Fernseher, jeder hat ein Bett und einen Schrank. Xin bewahrt in seinem die kleinen Symbole seines bescheidenen Reichtums auf: Plastikfigu-ren aus den Computerspielen, mit denen er in einem der Computercafés nahe der Fabrik seinen freien Tag verbringt. Es sind mythische Gestalten mit übernatürlichen Kräften. Vielleicht ist es das, was Xin so sehr an ihnen fasziniert: dass alles möglich ist.