Es geht schon nicht gut los. Opas Wollmantel ist zu warm, die Wurst am Bahnhof schmeckt komisch, das buttercremefarbene Taxi, das Jung, wie der Held ohne Namen genannt wird, vom Münchner Hauptbahnhof zum Studentenwohnheim in Schwabing bringt, kostet 6,40 DM. Viel mehr als erwartet.

Doch das ist erst der Anfang. Es warten noch viel mehr Kulturschocks auf den jungen Isländer, der in Hallgrímur Helgasons furiosem Roman „Seekrank in München“ ein Auslandsjahr an der Kunstakademie antritt.

Immerhin spielt die Handlung 1981. Island ist damals nicht nur geografisch weit vom europäischen Festland entfernt. Auch kulturell. Es gibt dort kein Bier, gerade mal zwei Cafés, und das Fernsehen sendet nur zwischen 18 und 22.30 Uhr. Spiele der Fußball-WM überträgt es schon mal mit drei Tagen Verspätung.

Am völlig falschen Platz im franzjosefstraußigen München

Kein Wunder, dass Jung, ein pickeliger und krankhaft schüchterner Tollpatsch aus der Provinz, mit Anpassungsschwierigkeiten zu kämpfen hat. Zumal er sich ohnehin am falschen Ort wähnt. Er will gar nicht ins franzjosefstraußige München, er will nach Westberlin, dorthin, wo diese faszinierende Mauer steht, man den Kalten Krieg spüren kann und alle freie Künstler sind. Das hat er jedenfalls mal gehört, zu Hause in seiner zugigen Heimat im Nordatlantik, deren Enge er so dringend entkommen will. Von München hingegen kannte er nur Boney M und den FC Bayern. Da nämlich spielt ein Landsmann von ihm. Wobei: Eigentlich spielt er eher nicht. Er sitzt meist auf der Ersatzbank.

Auch Jung startet nicht gerade durch. In der Kunstakademie versemmelt er die Aufnahmeprüfung, wird dann aber – halb aus Mitleid – doch genommen. Er kommt in eine Klasse, in der ein Maler der Neuen Wilden unterrichtet. Für Jung, der Marcel Duchamp anbetet und in seiner introvertierten Verkopftheit am liebsten ein Konzeptkünstler wäre, ist dieses impulsive, farbenkräftige Gepinsel die totale Hölle. Auch seine Kommilitonen kommen ihm komisch vor. Eine sieht aus wie Patti Smith, ein anderer wie Lou Reed. Jung dagegen wacht jeden Tag mit der Sorge auf, der Dritte Weltkrieg könnte angefangen haben.

Helgason schickt die Leser auf eine ziemlich schräge Zeitreise, auf der man einiges über Island und vieles über Westdeutschland erfährt, vor allem aber kartografiert sein so kluger wie lustiger Außenseiterroman die karstige Seelenlandschaft eines jungen Kunststudenten, der in der Fremde eingeschüchtert, einsam und überfordert ist. Dabei lässt Helgason die Handlung schon mal ins Surreale abgleiten: Die ungewohnte Umgebung löst in Jung Übelkeit aus, so dass er immer wieder – als wäre er ein isländischer Vulkan – komische schwarze Brocken spucken muss. Meist natürlich genau dann, wenn es gerade wieder gar nicht passt.

Auf den 416 Seiten setzt Jung so ziemlich alles in den Sand. Seine Ausbildung, eine Reise nach Italien, den Versuch, bei Mädchen zu landen oder einfach nur Anschluss zu finden. Am Ende findet er sich zu allem Überfluss auch noch in einem Ostberliner Gefängnis wieder.

Das mag nach einer einigermaßen deprimierenden Lektüre klingen, zumal der Roman autobiografisch ist. Ist es aber nicht: Denn einerseits erzählt Helgason sein schwarzes Jahr in München hochkomisch, und andererseits ist aus ihm trotz seines fulminant verhauenen Auslandsaufenthalts ja doch noch was geworden. Als Maler und Autor gehört er zu den wichtigsten Künstlern seines Landes. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und sein Roman „101 Reykjavík“ verfilmt. Er schrieb Theaterstücke, Essays, Hörspiele und tritt gelegentlich als Stand-up-Comedian auf.

So liegt in all dem jugendlichen Scheitern vor allem eins: ein Trost. Schlechte Zeiten, so kann man das Buch lesen, gehen meist bald wieder vorbei. Und mit ein bisschen Glück kann man irgendwann darüber lachen.

Hallgrímur Helgason: „Seekrank in München“. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig, Tropen Verlag, München 2015, 416 Seiten, 18,90 Euro


Felix Denk, Kulturredakteur von fluter.de, wuchs in München auf und war auch mal auf der Kunsthochschule, allerdings in Berlin. Wenn er sich mal übergeben musste, dann nicht aus Seekrankheit.