Der Arbeitstag von Ahmed Abbassi beginnt mit Verspätung. 35 Minuten Verzögerung sind es heute, vergleichsweise wenig. Eine Stunde und 42 Minuten waren es im Durchschnitt im letzten Jahr. „Beginn der Plenarsitzung um 9h35. 55 Abgeordnete anwesend“, twittert Ahmed. Das Quorum ist erreicht. Zusammen mit drei Kolleginnen sitzt der 25-Jährige auf den grünen Klappsesseln in der rechten Ecke der Besuchertribüne des tunesischen Parlaments. Ihre Rechner hängen an einer eigens mitgebrachten Mehrfachsteckdose, damit die Akkus nicht schlappmachen. Denn der Tag heute wird lang werden.

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Transparentes Parlament: Plenarsaal in einem gläsernen Gebäude mitten in der Wüste, auf dem Dach weht die tunesische Flagge

Das gläserne Parlament: Die Organsation Al Bawsala sorgt für Transparenz in der jungen tunesischen Demokratie

Wer regelmäßig im tunesischen Parlament ist, der weiß: Hinten rechts, das ist die Ecke von Al Bawsala (arabisch: Der Kompass), dem tunesischen Pendant zu Abgeordnetenwatch. Seit vier Jahren sitzt dort ein Team der Nichtregierungsorganisation bei jeder Parlamentsdebatte, denn von da haben sie den besten Blick auf den Plenarsaal, wo seit den Wahlen im Herbst 2014 das erste reguläre Parlament Tunesiens nach der Revolution tagt. Sie haben mehr als 400 Abgeordnete, unzählige Übergangsregierungen und Gesetzesentwürfe, mehr als 1.800 Abstimmungen und die Verabschiedung einer Verfassung beobachtet, sie haben die Anwesenheit der Abgeordneten überprüft und jede Minute Verspätung notiert. Und sie haben darüber getwittert. Mehr als 70.000 Updates aus dem Parlament haben sie über den Kurznachrichtendienst veröffentlicht, wo sie fast 180.000 Follower haben.

Al Bawsala ist eine Art tunesisches Abgeordnetenwatch

Heute sollen mehrere Gesetzesentwürfe verabschiedet werden. Außerdem stehen zwei Minister den Parlamentariern Rede und Antwort. Es geht um Hörgeschädigte, Olivenöl und den tunesischen Stand auf der Genfer Buchmesse. Alles, was im Plenarsaal gesagt wird, fasst Al Bawsala auf Twitter auf Französisch zusammen. Neben dem Arabischen ist Französisch in Tunesien wichtige Verkehrssprache. In beiden Sprachen veröffentlicht die Organisation außerdem Abstimmungsergebnisse, stellt Gesetzesentwürfe ins Internet und verfolgt die Arbeit der verschiedenen Ausschüsse. Das Ziel ist es, transparent zu machen, was im Parlament passiert, so dass die Bürger ihre Vertreter zur Verantwortung ziehen können.

Al Bawsala dokumentiert auf Twitter sogar, ob die Sitzungen im tunesischen Parlament wie geplant beginnen. Die hier aktuell noch 56 Minuten Verspätung wären sogar überdurchschnittlich pünktlich: Im Durchschnitt begannen die Plenarsitzungen 2015 eine Stunde und 42 Minuten später als angesetzt 

Für Ahmed ist das der Hauptgrund, warum er sich entschieden hat, für Al Bawsala zu arbeiten. „Wir stellen den Bürger ins Zentrum der politischen Prozesse. Das ist wichtig für die Demokratisierung Tunesiens, und ich möchte schließlich etwas für mein Land tun“, sagt er. Seit vier Monaten ist er Projektassistent, außerdem macht er nebenher noch einen Master in Internationalem Recht.

Seit dem politischen Umbruch 2011 hat sich in Tunesien in Sachen Demokratisierung einiges getan. Zweimal wurden freie Wahlen abgehalten, und eine neue Verfassung, die im Januar 2014 verabschiedet wurde, soll garantieren, dass sich das Land zu einem demokratischen Staat entwickelt. Doch jetzt geht es ans Eingemachte: die Anwendung der neu geschaffenen Strukturen und Instrumente. Unzählige alte Gesetze müssen überarbeitet werden, um der neuen Verfassung gerecht zu werden, außerdem soll Tunesien zum Beispiel ein Verfassungsgericht und eine dauerhafte Instanz zum Kampf gegen die Korruption erhalten.

„Jetzt sagen die Leute: Das Parlament macht es euch nach“

Einen ersten Erfolg kann Al Bawsala schon verbuchen: Das Parlament veröffentlicht inzwischen selbst die Abstimmungsergebnisse und twittert auch die Debatten. „Jetzt sagen die Leute: Das Parlament macht es euch nach. Aber das war ja genau unser Ziel, und deshalb sind wir froh darüber“, lacht Ons Ben Abdelkarim, die Präsidentin von Al Bawsala. Trotzdem machen sie erst mal weiter, denn noch steht in den offiziellen Tweets längst nicht alles Wesentliche, meint sie.

Immer wieder wird die Organisation von den Abgeordneten für ihre Arbeit angegriffen, vor allem wenn sie offenlegt, welche Volksvertreter die höchsten Fehlzeiten haben. Sie würden ein schlechtes Bild Tunesiens verbreiten und das Parlament schwächen, kriegen Ons und ihre Kollegen regelmäßig zu hören. „Transparenz und Kontrolle sind leider nach wie vor nicht fest in unserer Mentalität verankert“, stellt Ahmed schulterzuckend fest. „Hätten wir in Tunesien keine starke Zivilgesellschaft, wären viele Probleme heute immer noch nicht gelöst.“

Zwar nutzt in Tunesien fast die Hälfte der Bevölkerung das Internet, doch Al Bawsala versucht, auch die andere Hälfte der Tunesier zu erreichen. Über ein Abkommen mit dem staatlichen Radio und seine Regionalsender sollen die Informationen über die Arbeit des Parlaments auch in Regionen mit geringer Internetverbreitung gelangen. Al Bawsala dient Journalisten oft als erster Ansprechpartner, wenn diese Informationen zur Arbeit des Parlaments suchen.

Außerdem engagiert sich die Organisation auch für die Transparenz auf kommunaler Ebene und klärt Lokaljournalisten und Bürger darüber auf, dass sie zum Beispiel das Recht haben, an den Sitzungen der Stadtverwaltung teilzunehmen und den Haushalt einzusehen. Umso wichtiger, da im kommenden Frühjahr zum ersten Mal seit dem Sturz des ehemaligen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali in ganz Tunesien Kommunalwahlen stattfinden sollen. Auch den Staatshaushalt bereitet Al Bawsala allgemeinverständlich auf und stellt ihn ins Netz.

Die Lobbyisten der Transparenz 

Dass diese Informationen Journalisten und Bürgern zugänglich bleiben, dafür hat Al Bawsala hart gekämpft. Im Frühjahr dieses Jahres hat das Parlament ein neues Gesetz verabschiedet, das den Zugang zu Informationen regelt. Die Organisation, die zu den bekanntesten Nichtregierungsorganisationen des Landes gehört, hatte bei den Abgeordneten Lobbyarbeit geleistet, wurde vom zuständigen Ausschuss gehört und hatte etliche Verbesserungsvorschläge gemacht.

„Als der Gesetzesentwurf mit so vielen Verbesserungen durchgegangen ist, die wir angeregt haben, war das ein sehr wichtiger Sieg für uns“, erzählt Ahmed und strahlt über das ganze Gesicht. Zugang zu Informationen, das ist der Dreh- und Angelpunkt für alle Projekte von Al Bawsala. „80 Prozent unserer Arbeit basieren darauf“, so Ons Ben Abdelkarim. Die Verabschiedung des Gesetzes wurde auch von internationalen Organisationen als wichtiger Schritt im demokratischen Prozess bezeichnet. Doch die Präsidentin von Al Bawsala stapelt tief. Sie sei zwar zufrieden mit dem Text, „doch jetzt geht es darum, dafür zu kämpfen, dass er auch angewendet wird. Sonst hilft er uns nicht weiter.“

Illustration: Theresa Hattinger