Die Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa zeichnet kein schönes Bild von Russland. Es ist wieder riskant geworden, zu sagen was man denkt. Die Staatspropaganda dominiert, und auch der zwischenmenschliche Alltag ist härter geworden. Damit will sich die Autorin nicht abfinden.

fluter: Worauf sind Sie in Ihrem Land besonders stolz?

Natalja Kljutscharjowa: Das Potenzial und Talent meiner Mitmenschen, außergewöhnliche Dinge zu leisten. Doch wir nutzen diese Fähigkeiten, die in dem Volk und dem Land stecken, viel zu wenig und entwickeln sie nicht weiter. Stattdessen herrscht eine unheimliche Härte und Kälte untereinander. 

Wie macht sich das bemerkbar?

Seitdem sich der Konflikt in der Ukraine zugespitzt hat, wächst der Graben zwischen denen, die hinter der russischen Führung stehen, und den wenigen, die dagegen sind. Man merkt selbst in den zwischenmenschlichen Beziehungen eine Nervosität. Manchmal sehe ich, wie sich alte Frauen vor den Eingängen der Häuser im Streit anbrüllen. 

War das jemals anders?

Anfang der 90er-Jahre, kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, haben wir eine größere Freiheit verspürt. Der Alltag war freundlicher und optimistischer. Das Leben war schwer, aber die Menschen hatten keine Angst, ihre Meinung zu sagen, und suchten selbstbestimmt nach unterschiedlichen Möglichkeiten, ihr Leben zu führen. Aber das war nur ein kurzer Abschnitt unserer Geschichte. Jetzt ist es wieder riskant zu sagen, was man denkt. Die Propaganda bringt die Menschen auf den Kurs des Kremls. Wer Russland nicht so rosig sieht wie das Staatsfernsehen, gilt als Staatsfeind.

Machen die Repressionen die Menschen mundtot?

Nehmen wir zum Beispiel die Massenproteste im Jahr 2011, als Hunderttausende auf die Straße gegangen sind, um gegen die Wahlfälschungen zu demonstrieren. Viele von ihnen sind deswegen verhaftet und vor Gericht gezerrt worden, einige kamen ins Gefängnis. Das hat den Menschen gezeigt, was ihnen droht, wenn sie sich gegen die Staatsmacht auflehnen. Viele Oppositionelle haben das Land verlassen. Die wenigen, die noch für ihre Rechte kämpfen, haben keine Familie, um die sie sich sorgen müssten. Als ich noch 20 Jahre alt war, bin ich auch mit der Fahne auf die Straße gegangen. Heute mache ich das nicht mehr.

In Metropolen sieht man sagenhaften Reichtum, während die meisten Russen in trostlosen Vorstädten und vergessenen Dörfern leben. Wieso lassen sich das die Benachteiligten gefallen?

Sie sehen ihre Notlage, haben aber keine Hoffnung, etwas daran ändern zu können. Darum haben sich viele aufgegeben. Sie zerstören sich allmählich selbst. Sei es durch Drogen, Alkohol oder generell einen ungesunden Lebensstil.

Sie kritisieren mit Ihren Erzählungen und Essays das System und die gesellschaftlichen Zustände im Land. Haben Sie keine Angst vor staatlicher Verfolgung, schließlich haben Sie inzwischen zwei Kinder?

Eigentlich nicht. Ich persönlich bin noch nicht Ziel von Repressalien geworden. Aber es stimmt schon, die Bedrohung erscheint immer unmittelbarer – man nimmt sie nicht mehr wie früher nur vom Hörensagen wahr. Ein Beispiel: Eine Freundin engagiert sich in einer Organisation, die mit Hilfe aus Westeuropa lokale Projekte fördert. Ihr hat man nun klar zu verstehen gegeben, sämtliche Kontakte in den Westen abzubrechen.

Es gibt seit Ende 2012 ein Gesetz, das russische Organisationen mit finanzieller Unterstützung aus dem Ausland als sogenannte ausländische Agenten diskreditiert. Die Arbeit zivilgesellschaftlicher Initiativen wird so erschwert.

Es geht ja noch weiter. Die NGOs sollen nicht nur von westlichen Geldmitteln abgeschnitten werden, sondern ihre Zusammenarbeit mit Europa gänzlich einstellen. Sonst wird man sie aus dem Verkehr ziehen.

Welche Kraft besitzen aus Ihrer Sicht unabhängige Medien?

Nur ein äußerst geringer Anteil der Bevölkerung nimmt die wirklich kritischen Medien wahr. Von denen gibt es auch nur wenige. Eigentlich nur die Zeitung „Novaja Gazeta“, der Radiosender „Echo Moskvy“ und einige Plattformen im Internet. Die Mehrheit der Russen glaubt ihnen nicht, denn sie bekommen im Fernsehen ständig zu hören, dass diese Medien Feinde des Landes sind.

Abgesehen vom Internetsender „Doschd“ besitzen die kremltreuen Sender in der TV-Landschaft ein absolutes Monopol.

Wenn ich mit Menschen rede, die ihre Informationen ausschließlich aus dem Fernsehen erhalten, denke ich, dass wir in zwei unterschiedlichen Ländern leben. In dem einen ist alles prima, und aus dem anderen fliehen die Menschen wie die Ratten vom sinkenden Schiff. 

Manche Russen werden im Ausland als protzige Neureiche wahrgenommen. Sind Russen von Geld besessen?

Das Geld hat sich zu einem Selbstzweck entwickelt. Seit Jahren sind wirtschaftliche und juristische Studiengänge überfüllt, weil sie ein hohes Einkommen versprechen. Anderen Fakultäten bleiben die Studenten hingegen fern. Die meisten Menschen wählen einen Job mit dem Ziel, möglichst viel Geld zu verdienen, ohne Rücksicht auf die eigenen Talente und Interessen. Viele üben ihre Berufe ohne Können und Hingabe aus und sind unglücklich – selbst wenn sie viel verdienen.

Das ist im Westen möglicherweise nicht anders.

Der Wohlstand im Westen, sofern ich das beurteilen kann, ist aber in ein soziales Umfeld eingebunden, und zumindest der Idee nach stehen Arbeit und Verdienst in einem direkten Verhältnis. Die Arbeitswelt richtet sich nach den Menschen, in Russland ist es umgekehrt. Hier besitzen sie für die Marktwirtschaft außerhalb ihrer Arbeitsleistung keinerlei Wert. 

Das erinnert an die Sowjetunion, wo das Individuum wenig zählte.

In der Erziehung ist das traditionelle sowjetische Modell immer noch vorherrschend: Die Eltern und die Familie erwarten von den Kindern Gehorsam. Das setzt sich in der Schule und an der Uni fort. So wachsen Menschen heran, deren zwischenmenschliche Beziehungen verkümmern. Immerhin kann man beobachten, dass immer mehr Menschen aufwachen: Sie schmeißen ihren ungeliebten Job hin und begeben sich auf die Suche nach ihrer eigentlichen Persönlichkeit. Dieses Downshifting ist besonders bei 20- bis 30-Jährigen beliebt – zumindest bei denen, die es sich leisten können.

Vielleicht werden unsere Enkel in der Lage sein, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen

Was muss geschehen, damit Russland ein demokratischer Staat wird?

Das ist ein Generationenprojekt. Es wird eine lange Zeit vergehen, bis wir es schaffen. Vielleicht werden unsere Kinder oder Enkelkinder in der Lage sein, eine demokratische Gemeinschaft aufzubauen – wenn wir uns alle sehr anstrengen. In der Gegenwart sehe ich dafür überhaupt keine Möglichkeiten. Auch die erste Generation, die Anfang der 90er-Jahre in einem freiheitlichen System geboren wurde, steht mittlerweile größtenteils unter dem Einfluss der autoritären Erziehung. 

Wirkt sich die Stalin-Ära mit ihren Millionen Ermordeten noch auf die Gesellschaft aus?

Die humanitäre Katastrophe ist bis heute spürbar. Eine ungeheure Zahl von Menschen wurde getötet oder vertrieben, vor allem gebildete Menschen, Wissenschaftler und Künstler. Sie und ihre Nachkommen fehlen unserem Land jetzt, Menschen, die keine Angst haben, eigenständig zu denken und Dinge zu hinterfragen.
 

Nicht erst seit dem Ukraine-Konflikt sehen einige das derzeitige politische System als eine Art Neo-Stalinismus. Warum ist die Regierung und vor allem der Präsident trotzdem so beliebt?

Putin ist so populär, weil er den Wunsch vieler Menschen nach einer harten Hand befriedigt. Sie sehnen sich nach jemandem, der ihnen den Weg zeigt. Ich glaube nicht, dass sich das Volk trotz der aktuellen Krise von ihm abwenden wird. Die Propaganda funktioniert hervorragend. Das Staatsfernsehen sagt den Menschen: Nicht Putin und die Regierung sind schuld an der Krise, sondern das „verdammte Amerika“. Und die Mehrheit glaubt es zu gern, denn das alte Freund-Feind-Schema aus der Zeit der Sowjetunion ist immer noch stark ausgeprägt.

Auch prominente russische Putin-Kritiker sehen vor allem im Hinblick auf den Krieg in der Ostukraine auch eine Schuld beim Westen. Gibt es darüber eine Debatte?

Eine objektive Diskussion existiert in Russland nicht. Niemand weiß so genau, was in der Ukraine geschieht. 

Glauben Sie, dass westliche Medien in der Hinsicht verlässlicher sind?

Ich kann das nicht beurteilen. Aber so wie ich das von meinen Bekannten in Europa höre, ist auch bei ihnen die Berichterstattung sehr stark ideologisiert und nicht unbedingt objektiv. Inwieweit der Westen eine Mitschuld an den Ereignissen in der Ukraine trägt und sich dabei im Umgang mit Russland schuldig macht, kann ich nicht sagen. Es ist klar, dass in den kremltreuen Medien ein verzerrtes Bild wiedergegeben wird – und Kritikern, die mehr Informationen über den Konflikt haben, in der breiten Öffentlichkeit keine Möglichkeit gegeben wird, ihre Sicht der Dinge darzulegen.

Das klingt nach einer undankbaren Aufgabe für kritische Künstler und Journalisten.

Die Intelligenzija hat keinerlei Einfluss auf die breite öffentliche Meinung, wir bleiben unter uns. Ich persönlich spreche mit meinen Werken nur für einen kleinen Teil meiner Generation. Dennoch: Nicht alles ist schlecht bei uns. Hier leben Menschen, die sehr reflektiert mit der Lage in unserem Land umgehen. Sie fürchten sehr, isoliert zu werden, und suchen den Austausch mit dem Ausland. Europa kann uns dabei helfen – indem es die Beziehungen mit Russland aufrechterhält.

Haben Sie Angst vor einem neuen Krieg?

Sehr. Ich denke gerade praktisch an nichts anderes.

Natalja Kljutscharjowa (1981 in Perm geboren) studierte an der Pädagogischen Hochschule von Jaroslawl. Heute lebt und arbeitet die Autorin und Journalistin in Abramzewo bei Moskau. In ihren Erzählungen und Aufsätzen schildert sie schnörkellos die Abgründe des russischen Alltags und porträtiert Menschen, die sich gegen die Verwahrlosung der Gesellschaft auflehnen. Bei Suhrkamp sind in deutscher Übersetzung bisher ihre Romane „Endstation Russland“ und „Dummendorf“ erschienen.