Jedes Pausenzeichen versetzte Theresa* in Panik. Denn wenn es klingelte, wusste Theresa, dass sie gleich allein auf dem Schulhof stehen würde. Dass ihre zwei besten Freundinnen so täten, als ob sie sie noch nie gesehen hätten. Und ihre Klassenkameraden hörte sie bereits lautstark tuscheln: „Hat der fette Wal schon wieder zugenommen?“ Theresa war damals zwölf und eigentlich gar nicht wirklich dick. Vielleicht etwas pummelig, aber darum ging es nicht. Ihr Gymnasium lag idyllisch in einer ländlichen Gegend im Süden Deutschlands, wo jeder Schüler jeden kannte. Mit Beginn der fünften Klasse bildeten sich auf einmal verschiedene Grüppchen. Plötzlich gab es Freunde, die nach der Schule immer skaten gingen, oder Mädchen, die sich fast ausschließlich fürs Shoppen interessierten. Theresa fand beides nicht so toll. 

Wann es genau begann, dass Theresa nur noch „die Fette“ war, weiß sie heute nicht mehr. Aber sie weiß, dass sie darunter litt, dass niemand mehr mit ihr Kontakt haben wollte, sie ausgegrenzt, verlacht und gemieden wurde. „In der Schule habe ich so getan, als ob es mir nichts ausmacht. Erst zu Hause habe ich dann losgeheult“, erinnert sie sich. Ihre Mutter habe natürlich gemerkt, dass es ihr nicht gut ging und sie nicht mehr in die Schule wollte. Theresa schob dann Bauchschmerzen vor, weil sie ihre Mutter, die sich allein um sie kümmerte und die „genug um die Ohren hatte“, nicht mit ihren Problemen belasten wollte. „Mit Facebook wäre es garantiert noch viel schlimmer für mich gewesen, aber das war zum Glück noch nicht so verbreitet.“ Trotzdem belastete die Situation Theresa immer stärker: Sie begann mit Diäten, aß tagelang nur Erbsen und Möhren aus dem Glas. In der Schule konnte sie sich nicht wirklich konzentrieren – was sich wiederum auf die Zensuren auswirkte.

Weil sie den anderen keinen Anlass zum Lästern geben wollte, traute sie sich irgendwann gar nicht mehr, vor anderen zu essen. Erst abends überkamen sie Fressattacken, und sie stopfte alles in sich hinein, was sie im Kühlschrank finden konnte. Nur um sich anschließend auf der Toilette den Finger in den Hals zu stecken. „Eines Tages sah ich in den Spiegel und entdeckte kleine Bäckchen in meinem Gesicht. Mit der Zeit hatte ich richtige Muskeln vom ständigen Brechen bekommen.“ Trotz Bulimie wurde Theresa nicht dünner, und irgendwann in der neunten Klasse fing sie an, sich mit einem Cutter in die Haut zu schneiden. Erst unten in der Bikinizone, wo es keiner sah, dann am Oberarm, wo es jedem hätte auffallen können. Der Schmerz, den sie beim Ritzen empfand, war eine Art Erleichterung für sie. 

Heute ist Theresa 24 Jahre alt, sie hat die Schule durchgestanden und nach dem Abitur eine Berufsausbildung gemacht. Sie ist glücklich mit ihrem Job, der sie in eine Großstadt verschlagen hat, in der sie das Leben genießt. Einen echten Freund hat sie bisher noch nicht gehabt, dafür aber viele gute Freunde, mit denen sie reden und Spaß haben kann. Nur zum Schwimmen an den See würde sie nie mit ihnen fahren. Immer noch schämt sie sich für ihren Körper und findet sich von der Hüfte abwärts viel zu dick. „Ich weiß genau, wie viele Kalorien ein Croissant, ein Stück Schokolade und ein Joghurt haben. Bis heute ist mein Verhältnis zum Essen komplett gestört.“ Doch Theresa ist ein von Grund auf positiver Mensch: Eigentlich hätte sie das jahrelange Mobbing nur stärker gemacht, glaubt sie. Und die, die sie früher nur „Fetti“ genannt haben, sind heute oft in der WG, in der Theresa lebt – als Besucher und alte Schulkameraden, die „ihr Leben bis heute überhaupt nicht in den Griff bekommen haben“. Vielleicht ist das ja die Ironie der Geschichte.    

 *Name von der Redaktion geändert