„Warum nur sind alle beim KGB so doof?“ fragt die Gefangene Iryna den Beamten des weißrussischen Geheimdienstes, der sie verhört und dabei genüsslich seine Nudeln schlürft. „Wer soll denn sonst bitte hier arbeiten“, antwortet der schließlich. „Schließlich ist das hier nicht die Akademie der Künste.“

cms-image-000048907.jpg

Ziemlich Underground, dieses Theater: Aus Angst vor Repressionen des Staates sind die Stücke des Belarus Free Theatre nur in privaten Wohnungen zu sehen, die von Mittelsmännern angemietet werden. (Foto: Siarhei Hudzilin/NYT/Redux/laif)
Aus Angst vor dem Staat spielt das Belarus Free Theatre nur in Privatwohnungen, die von Mittelsmännern angemietet werden (Foto: Siarhei Hudzilin/NYT/Redux/laif)

„Die Zeit der Frauen“ heißt das Theaterstück, aus dem diese Szene stammt. Das Stück hat der weißrussische Regisseur und Autor Nikolaj Chalezin geschrieben und inszeniert. Er ist einer der Mitbegründer des Belarus Free Theatre, einem unabhängigen Ensemble, das seit 2005 existiert und das sich mit Themen beschäftigt, die im Land des autokratischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenko eigentlich tabu sind. Es geht um KGB-Verhöre, um Folter, um Homosexualität, um Depression, um Selbstmord oder um die Todesstrafe, die in der Republik Belarus immer noch vollstreckt wird.

Das Theater ist nicht nur aus dem Drang zur Freiheit entstanden, über Tabu-Themen künstlerisch sprechen zu wollen, sondern auch aus dem Wunsch heraus, dem altbackenen Staatstheater des Landes etwas Modernes und Aufregendes entgegenzusetzen.

„Ein Theater zu gründen, in einer Diktatur, das kann nicht funktionieren“

„Als wir damals angefangen haben“, sagt Chalezin, „da haben alle gesagt: Ein Theater zu gründen, in einer Diktatur, das kann nicht funktionieren. In Belarus werden keine Theater gegründet.“ Aber es hat funktioniert. Auch Dank berühmter Schirmherren wie Vaclav Havel, ehemaliger Staatspräsident der Tschechoslowakei, die sich von Anfang an für die Truppe eingesetzt und es ermöglicht haben, dass das Theater auch im Ausland spielen konnte.

Die Truppe inszeniert Text-Collagen, die häufig aus realen Interviews und Zitaten bestehen, dazu aus Musik, Projektionen und Filmszenen. Die Stücke leben von einer extremen Körpersprache und von einer Intensität, die den existenziellen Lebensbedingungen des Theaters und dessen Kompromisslosigkeit geschuldet sind. Bei den Aufführungen gibt es keinen Vorhang. Das Dargebotene soll mit der weißrussischen Wirklichkeit verschmelzen und die Zuschauer in diese nicht selten verstörende Wirklichkeit hineinziehen.

Per Flüsterpost zum Spielort

„Wir versuchen mit unseren Inszenierungen Fragen aufzuwerfen“, erklärt Chalezin. „Fragen, die viele in unserem Land bewegen, aber die aufgrund der bestehenden Diktatur nicht diskutiert werden können. Bei uns legt ja nur einer fest, was politisch ist. Wir sind kein klassisches politisches Theater. Aber wir haben keine Angst vor dem Wort Politik.“ Im Ausland nutzt das Theater seine Bekanntheit auch dazu, um über die Repressionen unter der Herrschaft Lukaschenkos zu informieren. Mit Aktionen und Diskussionen.

So viel Mut zur Freiheit hat seinen Preis: die Aufführungen des Ensembles können in Weißrussland nur im Untergrund stattfinden, in privaten Wohnungen, die über Mittelsmänner angemietet werden. Wer ein Stück sehen will, bekommt eine SMS mit Angaben zu Zeit und Treffpunkt. Dann geht es zum Aufführungsort.

cms-image-000048908.jpg

Auch für ihre Proben muss die Truppe schon mal auf verlassene Garagen zurückgreifen - wie hier beim Stück „Die Zeit der Frauen“, das von den Protesten bei der letzten Präsidentschaftswahl handelt (Foto: Siarhei Hudzilin/NYT/Redux/laif)

Auch für ihre Proben muss die Truppe schon mal auf verlassene Garagen zurückgreifen - wie hier beim Stück „Die Zeit der Frauen“, das von den Protesten bei der letzten Präsidentschaftswahl handelt

(Foto: Siarhei Hudzilin/NYT/Redux/laif)

Proben dirigieren Chalezin und seine Frau Natalja Koljada via Skype. Die jungen Schauspieler wurden fast alle schon von den Geheimdienstorganen bedrängt und verhört. In der Vergangenheit wurden Aufführungen immer wieder von der Miliz gestürmt erzählt Chalezin, der wie Koljada und der Regisseur Vladimir Scherban seit 2011 im Exil in London lebt, wo es das Theater mittlerweile zu großer Bekanntheit gebracht hat – unterstützt von Theater-Größen wie Tom Stoppard oder Harold Pinter und von Hollywood-Schauspielern wie Jude Law oder Kevin Spacey.

Für alle, die nach Freiheit hungern

Das Stück „Die Zeit der Frauen“, das 2014 im Minsker Untergrund Premiere feierte, basiert auf Erfahrungen der Journalistinnen Iryna Chalip und Nata Radzina und der jungen Aktivistin Nasta Palazhanka, die alle nach den Massenprotesten am 19. Dezember 2010 verhaftet wurden. Damals gingen in der weißrussischen Hauptstadt Minsk Zehntausende auf die Straße, um gegen die Wahlfälschungen bei der Präsidentschaftswahl am selben Tag zu protestieren. Daraufhin wurden 700 Protestler, Aktivisten, Journalisten und Politiker verhaftet, darunter auch sieben oppositionelle Präsidentschaftskandidaten.

Das Belarus Free Theatre ist in Weißrussland längst zur Inspiration für alle geworden, die nach größerer Freiheit hungern. Mittlerweile gibt es – abseits der staatlichen Bühnen und trotz der schwierigen politischen Umstände – immer wieder Versuche, solche Ensembles auf die Beine zu stellen. „Zweifelsohne hat unsere Arbeit Einfluss auf das Theater in unserem Land“, meint Chalezin. „Aber ich bin nicht sehr optimistisch, was die Zukunft in dieser Hinsicht anbelangt. Wir müssen immer noch im Untergrund arbeiten. Wir können offiziell keine Räume für das Theater anmieten. Die Autoritäten sehen uns als Bedrohung und geben uns das immer wieder durch den Repressionsapparat zu verstehen. Und das betrifft ja nicht nur uns als Theater, sondern auch unabhängige Musiker, Schriftsteller und Künstler.“ Chalezin stockt. Dann sagt er: „Also bin ich bei der Frage unseres Einflusses etwas zurückhaltender: wir haben zwar einen gewissen Einfluss auf die Situation im Land. Aber sicher nicht in dem Maße, wie wir das gerne wollten.“

Dieser Text stammt aus dem fluter-Archiv und wurde erstmals im Jahr 2016 veröffentlicht.