RECEP OLUK, 15, Maler 


Ich gehe jeden Freitag in die Moschee. Die Menschen sollten die Religion ernst nehmen. Allerdings kann auch ich nicht täglich beten: Ich arbeite den Sommer über als Maler und Anstreicher in Istanbul, ich bin zum ersten Mal hier. Ich mag die Stadt nicht, weil die Leute nicht ehrlich sind. Mein Bruder zum Beispiel hat sich kurz nach unserer Ankunft ein Handy gekauft. Ein Bekannter hat es sich geliehen, aber nie zurückgegeben. Solche Diebstähle gibt es in meinem Dorf in der Provinz Kayseri nicht. Im Winter werde ich dorthin zurückkehren – zum Glück. Aber wenn ich mal heirate, soll meine Frau entscheiden, wo sie am liebsten leben will. 

 

IBRAHIM HÜSEYIN, 22, Restaurant-Angestellter aus Aserbaidschan 


Ich glaube zwar nicht, dass alle Aserbaidschaner so denken, aber ich liebe die Türkei und habe Respekt vor diesem Volk. Es war lange mein Traum, nach Istanbul zu ziehen. Als ich noch in Aserbaidschan lebte, habe ich von einem „sauberen“ Land geträumt: Ich dachte, hier passieren keine Diebstähle. Aber man muss in Istanbul ständig aufpassen,nicht beklaut zu werden. Trotzdem fühle ich mich seit gut einem Jahr sehr wohl hier, habe viele türkische Freunde und eine Arbeit gefunden. Meine Aufgabe ist es, Menschen ins Café zu locken – das ist Werbung auf der Straße. Aber auch nur ein Job. Ich komme aus einer Künstlerfamilie, singe und habe Theater studiert. Das will ich unbedingt weitermachen. Meine Traumrolle: der männliche Part in der Liebesgeschichte Leyla und Mecnun, einer Legende, die hier sehr bekannt ist. Im Dezember, wenn ich meine Familie in Baku besuche, werde ich auch meine Freundin wiedersehen. Ich will sie nach Istanbul holen. Sie heißt Leyla. 

 

GÜLNÜR ELCIK, 24, engagiert sich für die Menschenrechtsorganisation Insan Haklari Dernegi 


Wie viel Zeit investierst du für Insan Haklari Dernegi? 

Ab und an helfe ich im Büro, bei Demonstrationen bin ich immer dabei. Aber momentan arbeite ich sechs Tage in der Woche für eine Filmproduktionsfirma, die vor allem Dokus macht. Eine über Folter in türkischen Gefängnissen hat in Deutschland schon Preise gewonnen. 

Ist das auch ein Thema in deinem Freundeskreis? 

Meine Freunde sind politisch engagiert, es ist mir wichtig, über solche Themen diskutieren zu können. Europa oder die Armenien-Frage sparen wir derzeit aus – wir haben einfach schon zu viel darüber geredet.

Gibt es in deinem Leben nur Politik? 

Ach was! Ich renoviere unsere Wohnung, sie soll freundlicher werden. Da wohne ich mit meiner Zwillingsschwester und einer Freundin. Und ich liebe experimentelle Musik! Aber ich bin überzeugt, dass mein Engagement helfen kann, die Welt ein bisschen besser zu machen.

DENIZ ÖNCE, 19, Modedesign-Studentin 


Wie kamst du dazu, Modedesign zu studieren? 

Da hatte meine Mutter als Näherin großen Einfluss. Ich habe als Kind immer mit Stoff gespielt und wusste, dass ich später etwas Kreatives machen möchte. Mein Traum: Ich hätte gern mal meine eigene Marke, wie Vivienne Westwood. 

Ist es auch Teil des Studiums, ins Ausland zu gehen? 

In unserem letzten Ausbildungsjahr studieren wir in New York. Danach können wir dort eine befristete Arbeitsgenehmigung bekommen – da würde ich gerne noch bleiben. Aber ich mag Istanbul auch sehr gern. Die Stadt ist so modern, so lebendig, so farbenfroh! Die Menschen kommen von überall her. So etwas wie Istanbul gibt es nirgendwo sonst. 

Findest du, die Türkei sollte zur EU gehören? 

Bevor man über die EU spricht, muss man über das Image der Türkei sprechen. Ich glaube, dass im Ausland oft ein falsches oder negatives Bild von den Türken vermittelt wird. An der Uni hatten wir mal einen Dozenten aus den USA. Als der den Saal betrat, war er völlig überrascht und sagte: Ich dachte, ihr Türkinnen seid alle verhüllt! 

Wie stehst du zum Kopftuchverbot? 

Ich bin da neutral. Obwohl ich finde, dass es nicht wichtig ist, ein Kopftuch zu tragen. Ich bin Muslimin und gläubig, auch wenn ich nicht fünfmal am Tag bete. Aber ich versuche im Ramadan zu fasten. 
 

ÖZGÜR ÖZCAN, 19, Kellner 


Bist du in Istanbul geboren? 

Nein. Ich bin vor einem Jahr aus Elazig in Anatolien hierher gezogen. Jetzt wohne ich im unteren Teil von Beyoglu, einem Slum. 

Warum bist du in die Stadt gezogen? 

Ich musste. In Elazig gab es kaum Arbeitsmöglichkeiten. Hier habe ich jetzt den dritten Job innerhalb eines Jahres. Ich bin Kellner in einem Restaurant, oben in Beyoglu, sechs Tage in der Woche. Die Arbeit ist in Ordnung, zu uns kommen viele Touristen und Beamte. Die Touristen sind irgendwie bescheidener als die Türken. 

Fühlst du dich wohl hier? 

Ja,ich habe viele Freunde. Und zum nächsten Ramadan, wenn das Restaurant geschlossen hat, besuche ich meine Eltern in Elazig. 

Hast du einen Traum? 

Ich will Profi-Fußballer werden, am liebsten im Sturm spielen. Ich kann das wirklich gut! Ich habe auch schon zu Hause gespielt, aber mein Vater hat mir nicht erlaubt, Fußball zu meinem Beruf zu machen. Zurzeit spiele ich zwar nur mit Freunden auf der Straße. Aber Fußballstar zu werden bleibt mein Traum. Am liebsten bei meinem Lieblingsverein: Fenerbahce Istanbul! 
 

MUHAMMED ÖZBEK, 21, afghanischer Straßenhändler 


Seit wann lebst du in Istanbul? 

Ich war zwei, als ich mit meiner Familie in die Türkei kam, wir sind aus Baglan im Nordosten Afghanistans. Daher auch mein Name: Özbek heißt Usbeke. In Istanbul selbst bin ich nur von April bis August, ich arbeite und wohne bei meinem Onkel. Eine tolerante Stadt! Den Rest des Jahres verbringe ich in Hatay bei meinen Eltern. 

Wie sieht deine Arbeit aus? 

Seit ich denken kann, schneidere ich diese Lederjacken, das ist unser Familiengeschäft, typisch afghanische Kleidung.Tagsüber arbeite ich im Atelier, abends ab halb neun verkaufe ich unsere Sachen hier am Hafen von Eminönü. 

Trägst du auch, was du verkaufst?

Meine Hosen und Jacken nähe ich selbst. Meine traditionelle Kleidung hängt bei meinen Eltern im Schrank, sie tragen die Gewänder jeden Tag. Ich ziehe das nur an, wenn ich bei ihnen bin. Dann gibt es auch mein Lieblingsessen: Reis mit Kichererbsen. An unsere Heimat erinnere ich mich kaum, ich kenne sie nur aus den Filmen, die Freunde von dort mitbringen. 

Sprichst du Usbekisch? 

Mit Freunden spreche ich Usbekisch, wenn uns keiner verstehen soll. Zum Beispiel, wenn es um Liebe geht: Ich bin mit einer Usbekin verlobt, nach Ramadan heiraten wir. Andere Pläne habe ich nicht, nur einen Traum: meinen Eltern eine Pilgerreise nach Mekka zu schenken. 
 

DILEK ISIK, 18, alevitische Schülerin 


Ich mag Kino. Zuletzt hab ich Fluch der Karibik gesehen, der hat mir gefallen, am besten fand ich Johnny Depp. Das Leben in Istanbul dagegen gefällt mir nicht, weil es keine Mittelschicht gibt. Entweder jemand ist sehr reich oder jemand ist sehr arm. Daher möchte ich nach der Schule auch raus aus der Stadt, am liebsten in England oder Deutschland Jura studieren. Vielleicht werde ich auch Lehrerin, aber nicht hier. Meine Familie ist ins alevitische Viertel gezogen, als ich acht Jahre alt war. Meine Freunde wohnen um die Ecke, anrufen muss ich fast nie jemanden, ich gehe einfach vorbei. Meine Handyrechnung ist trotzdem hoch – ich schreibe so gern SMS. Zum Glück bezahlen das noch meine Eltern. 
 

SABRI ÖZDEMIR, 26, Immobilienmakler 


Am liebsten hätte ich zwei Wohnsitze: ein Häuschen im Wald, auf der asiatischen Seite,und ein tolles Apartment hier in der Stadt mit Blick auf den Bosporus. Aber das kann ich mir noch nicht leisten. Ich bin erst seit anderthalb Monaten hier in der Firma, davor war ich Kuaför. Ich mag Abwechslung, meinen alten Job vermisse ich kein bisschen. Jetzt kaufe und verkaufe ich alles – von der einfachen Wohnung bis hin zu richtigen Palästen. Nach zwei Tagen in der Großstadt merke ich aber, dass ich wieder rausmuss. Sobald ich in den Bus steige, fühle ich mich wie im Urlaub, die Hektik der Stadt lasse ich hinter mir. Je weiter ich ins Grüne komme, desto mehr spüre ich eine wunderbare Leichtigkeit. 
 

VEYSEL DENIZ, 19, Maiskolbenverkäufer 


Zukunftsgedanken? Ich arbeite nur. Vor sechs Jahren kam ich von Siirt in Ostanatolien nach Istanbul, mit meinen Geschwistern wohne ich in Fatih. In meiner Heimat wird Mais angebaut, so kam ich auf die Idee, gebratene und gekochte Maiskolben zu verkaufen. Gott sei Dank verdiene ich genug, um zu leben. Den Maiswagen miete ich von der Stadt für hundert Lira im Monat. Ich stehe immer im Viertel Taksim, immer am gleichen Platz, von mittags bis zwei Uhr nachts. Für Hobbys bin ich nach der Arbeit zu müde. Wie gesagt: Ich arbeite nur. 


EZGI CARÜ, 27, Barbesitzerin 



Eigentlich bin ich Schmuckdesignerin. Aber hier interessiert sich keiner für neue Entwürfe. Vor zweieinhalb Jahren habe ich deshalb beschlossen, umzusatteln und endlich Geld zu verdienen. Seither bin ich Geschäftsführerin von „The House Café“ in Tünel, in der feineren Ecke von Beyoglu. Beyoglu selbst ist mir zu heruntergekommen. Zu uns kommen vor allem Künstler und Schriftsteller. Im Herbst werde ich meinen Freund in Amsterdam besuchen – das wird das erste Mal sein, dass ich ins Ausland reise. Am liebsten würde ich mal nach St.Petersburg, wegen der Architektur. Dort passen sie auf ihre Kulturgüter auf, das imponiert mir. Istanbul wird nicht gepflegt, es ist verunstaltet und schroff.