Thema – Gender

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Halbpension

In Deutschland bekommen Frauen halb so viel Rente wie Männer. Unsere Autorin will sich damit nicht abfinden

Wenn ich über Geschlechtergerechtigkeit nachdenke, fällt mir vieles ein: Sexismus im Alltag. Frauen, die weniger Gehalt bekommen als ihre männlichen Kollegen. Für dieselbe Anerkennung mehr Leistung erbringen müssen. Oder den Großteil unbezahlter Sorgearbeit verrichten. Woran ich lange nicht gedacht habe: an die Rente.

In dieser fernen Zukunft, in der Job, Karriere und Familiengründung abgeschlossen sind, sollte es doch endlich vorbei sein mit dem ewigen Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau? Da sollte man sich als feministische Veteranin doch bitte schön ausruhen dürfen?

Männer: 911 Euro, Frauen: 636 Euro

Schön wär’s. In Deutschland klafft eine große Rentenlücke zwischen den Geschlechtern: Frauen bekommen im Schnitt 46 Prozent weniger Rente als Männer. Im Jahr 2017 ergab eine Studie der Bertelsmann Stiftung, dass Männer zum Zeitpunkt der Befragung einen durchschnittlichen Rentenanspruch von 911 Euro, Frauen einen von nur 636 Euro erworben hatten. Die Studie zählt vor allem alleinstehende Frauen zu den Risikogruppen für Altersarmut. Im Jahr 2036 könnte fast die Hälfte von ihnen unterhalb der Armutsgrenze leben. Obwohl sie besser ausgebildet und länger berufstätig waren als die Generationen vor ihnen.

Seit ich diese Zahlen kenne, empfinde ich das als schreiende Ungerechtigkeit. Und frage mich: Woran liegt das? Und was können wir dagegen tun? Ich rufe Kristina Vaillant an. Die Journalistin hat ein Buch zu weiblicher Altersarmut geschrieben. Vaillant ist von den Zahlen nicht mehr geschockt, sie kann die Rentenlücke in einem Satz erklären: „Das Rentensystem in Deutschland bildet knallhart den Arbeitsmarkt ab.“ Heißt: Weil Frauen am Arbeitsmarkt benachteiligt werden, bekommen sie auch im Alter weniger Geld.

In Deutschland gilt als „von Armut bedroht“, wer als Alleinlebende*r monatlich maximal 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat. Das lag 2018 laut Statistischem Bundesamt bei 1.136 Euro. Wer weniger als 682 Euro im Monat hatte, lebte also offiziell unter der Armutsgrenze.

Die Beiträge, die wir in Deutschland in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen, werden proportional zum Arbeitseinkommen berechnet und später entsprechend ausgezahlt. Das nennt sich Äquivalenzprinzip. Kurz: Wer viel verdient, bekommt viel Rente, wer wenig verdient, wenig. Da Frauen im Schnitt 20 Prozent weniger verdienen als Männer, stehen sie entsprechend schlechter da.

Die Lohnlücke kommt unter anderem zustande, weil Frauen häufiger schlecht bezahlt werden, etwa in Pflege- oder Serviceberufen, oder ganz unbezahlt arbeiten: Sie kümmern sich zum Beispiel sehr viel häufiger um die Pflege von Angehörigen oder die Erziehung der Kinder. Weil sie dafür mehr Elternzeit nehmen, öfter in Teilzeitjobs arbeiten und tendenziell auf die Karriere verzichten, zahlen sie wiederum geringere Beiträge in die Rentenkasse ein. „Dafür, dass man Kinder erzieht, wird man in der Rente abgestraft“, sagt Kristina Vaillant, die selbst zweifache Mutter ist.

Manche verweisen darauf, dass Frauen solche Fürsorgearbeit freiwillig verrichten – genauso wie die Arbeit in schlecht bezahlen Berufen. Es mag stimmen, dass keine Frau gezwungen wird, die Diskussionen um den Gender Pay Gap zeigen aber, dass Frauen in der Berufswelt an Grenzen stoßen, die Männer nicht erleben. Und sie werfen die Frage auf, warum bestimmte Berufe und Care-Arbeiten überhaupt so schlecht entlohnt werden.

2021 kommt eine neue Grundrente – die den „Gender Pension Gap“ kaum kleiner macht

Die wenigen Rentenpunkte, die man für Erziehungszeiten angerechnet bekomme, könnten niemals ausgleichen, was Mütter durch Teilzeit oder geringere Aufstiegschancen verlören, sagt auch Kristina Vaillant. In Gesprächen mit jungen Frauen zum Thema Altersvorsorge habe sie darum oft Sätze gehört wie: „Ich will keine Kinder bekommen, sonst geht es mir mal wie meiner Mutter.“ Klar, keine Frau sollte Kinder bekommen, wenn sie das nicht möchte. Aber wenn sie sich aus Angst vor Altersarmut gegen Kinder entscheidet, läuft etwas schief.

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Wer anderen hilft, kann sich die investierte Zeit bei einer Bank gutschreiben lassen: Passt das Konzept „Zeitbank“ auch nach Deutschland?

Ich erinnere mich, dass ich vor einigen Jahren regelmäßige Anrufe von meinem Bankberater bekam: Ob ich denn schon über eine private Altersvorsorge nachgedacht hätte? Auch Familie und Freund*innen sagen immer wieder, man müsse halt privat vorsorgen. Sich nicht auf den Staat verlassen und selbst schauen, wo man bleibt – ist das der einzige Ausweg?

Natürlich sei es nie falsch, privat vorzusorgen, sagt Kristina Vaillant, aber viele Menschen könnten sich das gar nicht leisten. Eine Versicherung, eine Immobilie, Aktien: Diese Bausteine können die Rentenlücke nicht schließen, weil sie wieder nur für diejenigen eine Option sind, die ohnehin gut verdienen oder erben. „Ich finde, wir müssen die Rente als gesellschaftliches Thema behandeln, nicht als individuelles“, sagt Vaillant.

Ansätze dafür gibt es: Anfang 2020 hat sich die Große Koalition auf eine Grundrente geeinigt, die 2021 in Kraft treten soll. Das war zumindest der Stand vor der Corona-Pandemie. Menschen, die wenig verdient haben, sollen dann einen Rentenzuschlag bekommen. Schon heute steht fest, dass 70 Prozent der Empfänger*innen Frauen sein werden. Viele begrüßen den Beschluss, Kritiker*innen aber sagen, dass auch die Grundrente zu stark an das Leistungsprinzip gekoppelt sei: Um sie beantragen zu können, muss man sein Leben lang mindestens 30 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient haben. Und volle Grundrente erhält nur, wer 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat. Wer oft in Minijobs gearbeitet hat, länger arbeitslos war, chronisch krank ist oder Kinder bekommen und großgezogen hat, fällt also schnell aus der Grundrente raus. „Bei Rentnerinnen liegt die durchschnittliche Beitragszeit heute bei nur 28 Jahren“, sagt Kristina Vaillant.

Wie eine fairere Grundrente zu gestalten wäre, ist umstritten. Vaillant schlägt eine bedingungslose Grundrente vor: Mit der erhielten im Alter alle einen festen Betrag, der die Existenz sichert – ganz unabhängig von ihrer jeweiligen Erwerbskarriere. Dieser Betrag könnte dann noch aufgestockt werden, beispielsweise über private Altersvorsorge. „Die Sicherheit, die ich dadurch hätte, könnte ich zum Beispiel nutzen, um ein finanzielles Risiko einzugehen, um in Teilzeit zu arbeiten oder ein Unternehmen zu gründen“, sagt Kristina Vaillant. Eine Art bedingungsloses Grundeinkommen fürs Alter also.

Teilzeit, Minijobs, Niedriglohnsektor: Unser Rentensystem ist überfordert

Das ist keine ferne Utopie, sondern in manchen Ländern längst Realität. Kristina Vaillant nennt zum Beispiel die Niederlande. Mit 66 Jahren hat man dort Anspruch auf eine Grundrente, etwa 1.200 Euro für Alleinstehende, etwa 800 Euro für Verheiratete und Zusammenlebende. Diese Grundrente wird allen ausgezahlt, ganz unabhängig davon, ob und wie lange sie in die niederländische Rentenkasse eingezahlt haben. Man erwirbt seinen Rentenanspruch nicht durch die Beteiligung am Arbeitsmarkt, sondern dadurch, dass man im Land lebt. (Der Höchstsatz der Grundrente wird nach 50 Jahren mit Wohnsitz in den Niederlanden erreicht.) So ideal das Modell klingt: Es gibt auch offene Fragen: Nimmt eine Grundsicherung den Menschen die Motivation, Vollzeit zu arbeiten? Aus welchen Mitteln zahlt der Staat die Grundrente? Und soll sie auch erhalten, wer schon sehr viel Geld hat?

Ähnliche Fragen hat man sich auch in Deutschland immer wieder gestellt. Kristina Vaillant erzählt, dass es Ende des 19. Jahrhunderts schon mal eine Sockelrente gab, als im Kaiserreich eine staatliche Altersvorsorge eingeführt wurde. Und Anfang der Siebziger wurde unter Kanzler Willy Brandt eine Rente nach Mindesteinkommen eingeführt, um auszugleichen, dass Frauen weniger verdient haben als Männer. Sie wurde allerdings zeitlich begrenzt, weil man davon ausging, dass sich die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern bald schließen würde. Darüber können wir heute natürlich nur müde lachen.

Unser aktuelles Rentensystem existiert seit dem Ende der 50er-Jahre, als Festanstellung, ein lebenslanger Arbeitsplatz und das Ernährermodell (der Mann macht Verdienstarbeit, die Frau unbezahlte Haus- und Pflegearbeit) die Regel waren. Heute gibt es Teilzeit, befristete Verträge, Minijobs, viel mehr Selbstständige, den Niedriglohnsektor und eine andere Vorstellung, wer sich um Kinder und Angehörige zu kümmern hat. Aber kein Rentensystem, das alle die Entwicklungen spiegelt. „Unser Rentensystem ist ein Erbe des Wirtschaftswunders“, sagt Vaillant. „Der Arbeitsmarkt wurde liberalisiert, aber das Rentensystem nie angepasst.“ Es wird also Zeit für eine Reform der Rente. Eine Reform, die dafür sorgt, dass ich beim Grübeln über Geschlechterungerechtigkeiten nicht mehr an die Rente denken muss.

Titelbild: Jörg Müller / Agentur Focus

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