Ein bisschen Angst schwingt mit in der Berichterstattung über Amazons geplanten Lebensmittelbringdienst „Fresh“: „Die deutschen Supermärkte rüsten zur Abwehr“, heißt es, oder „Nach den Buchläden sind jetzt die Bauern bedroht“. Ist das wirklich so? Und sind auch wir Konsumenten bedroht, wenn bald ein Konzern unsere Einkaufshistorie mitliest, möglicherweise gar beeinflusst, was bei uns auf dem Teller landet?

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Ein Laptop auf einem Herd (Foto: Kostis Fokas)
(Foto: Kostis Fokas)

Die wichtigsten Fragen und Antworten rund um Amazons Pläne und den Online-Lebensmittelmarkt:

1. Woher rührt die Angst vor Amazons Dienst „Fresh“?

Aus Amazon, dem Online-Buchhändler aus Seattle, ist binnen zweier Jahrzehnte ein riesiger Konzern geworden, der längst nicht mehr nur Bücher vertreibt. Er bietet inzwischen auch Logistik und Technik an, produziert eigene Filme und Serien, druckt Bücher, hat Cloud-Dienstleistungen und vieles mehr im Sortiment – in einigen US-Städten eben auch Lebensmittel. Amazon ist ein riesiges Labor für neue Ideen, ein Transformator, der ganzeBranchen umkrempelt, nicht weniger ambitioniert als Google, und macht allein in Deutschland rund 10 Milliarden Euro Umsatz. Auch auf Kosten des Buchhandels: So ist die Zahl der kleinen und mittleren Buchhandlungen in den vergangenen zehn Jahren um ein Viertel gesunken – vor allem wegen Amazon, wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels sagt. Vielleicht rührt die Sorge aus Beobachtungen wie dieser.

2. Kauft denn überhaupt jemand Lebensmittel online?

Die Einstellung der Deutschen zum Lebensmitteleinkauf im Internet lässt sich laut Marktforschern derzeit so zusammenfassen: Haltbares ja, Frisches lieber offline. Zwar gibt es bereits einige Online-Supermärkte, so zum Beispiel von Rewe, Kaiser’s Tengelmann („Bringmeister“) oder DHL („Allyouneed Fresh“), doch derzeit macht das Onlinesegment nur rund ein Prozent des gesamten Umsatzes des Lebensmitteleinzelhandels aus. Experten prognostizieren der Branche allerdings ein rapides Wachstum – und dabei könnte Amazon mit seinem Dienst „Fresh“ eine entscheidende Rolle spielen. Aber: In den USA ist der 2013 gestartete Service derzeit bloß in sieben Städten verfügbar, womit Amazon hinter den Erwartungen einiger Analysten zurückgeblieben ist.

3. Andere Händler sind also längst online vertreten. Wann startet Amazons Dienst „Fresh“?

Die hiesige Handelsbranche beobachtet Medienberichten zufolge schon seit längerem, dass Amazon in Deutschland nach geeigneten Hallen und Mitarbeitern sucht, mutmaßlich wird noch in diesem Jahr in München oder Leipzig getestet. Um flexibler zu sein und Waren noch am selben Tag liefern zu können, ist Amazon außerdem im Begriff, einen eigenen Lieferdienst mit eigenen Packstationen aufzubauen.

4. Ist die Angst vor Amazons Markteinstieg berechtigt?

Die Angst vor der Dominanz Amazons kann E-Commerce-Experte Jochen Krisch verstehen. Der selbstständige Branchenanalyst und Business Angel betreibt das Blog „Exciting Commerce“ und ist Veranstalter einer Konferenz für Onlinehandel. Er sagt, es sei jedoch auch Skepsis angebracht: „Internationale Player setzen sich in Deutschland in der Regel nicht durch.“ Das habe man in der Vergangenheit zum Beispiel bei Wal-Mart beobachten können. Zu umkämpft sei der Markt mit seinen ohnehin geringen Margen. Deshalb erwartet er, dass Amazon zunächst ein kleiner Player mit beschränktem Angebot werde, statt mit einem großen Knall zu starten. Krisch kann sich außerdem vorstellen, dass Amazon nach der Etablierung von „Fresh“ seine Verkaufsplattform auch für andere Anbieter öffnet. Davon könnten dann auch andere Unternehmen aus der Branche profitieren.

5. Sind die Supermärkte damit bald Geschichte?

Marktforscher sind der Überzeugung, die Deutschen gehen zu gern einkaufen, als dass der stationäre Handel aussterben könnte. Stephan Becker-Sonnenschein, Geschäftsführer des Vereins „Die Lebensmittelwirtschaft“, rechnet allerdings damit, dass die Anzahl der Supermärkte in den nächsten fünf bis zehn Jahren vor allem auf dem Land und in Kleinstädten abnehmen wird.„Dass das Wegfallen des haptischen Erlebnisses den digitalen Wandel im Lebensmittelhandel aufhalten könnte, wage ich zu bezweifeln“, sagt er. Durch die Gewöhnung, alles im Netz kaufen zu können, sei es ganz selbstverständlich, sich nun auch die Radieschen liefern zu lassen.

6. Was bedeutet der Start von „Fresh“ für die Bauern?

„Amazon wird massiven Einfluss auf die Erzeuger ausüben“, sagt Jutta Sundermann. Sie engagiert sich bei der „Aktion Agrar“, die sich für eine ökologische, nachhaltige und sozialverträgliche Landwirtschaft starkmacht. Neben hohem Preisdruck befürchtet Sundermann, dass Amazon die Qualitätsstandards der Branche senken könnte.

Allerdings steht schon jetzt auf dem deutschen Lebensmittelmarkt eine Handvoll Konzerne zwischen Abertausenden landwirtschaftlichen Betrieben und Millionen Konsumenten – eine Gruppe Gatekeeper mit ungeheurer Marktmacht: Edeka, Rewe, Aldi und Lidl-Eigentümer Schwarz teilen sich – gemessen am Absatz – derzeit mehr als 85 Prozent des deutschen Lebensmitteleinzelhandels . Ob Onlinehändler Amazon die Abhängigkeit der Bauern von den Gatekeepern daher tatsächlich verstärkt, bleibt abzuwarten.

7. Müssen wir uns Sorgen um die Produktvielfalt machen, wenn immer mehr Lebensmittel online bestellt werden?

Da sind Branchenkenner unterschiedlicher Meinung. Stephan Becker-Sonnenschein vom Verein „Die Lebensmittelwirtschaft“ befürchtet, dass in Online-Supermärkten auf Grundlage zweier Fragen eine Angebotsauswahl vorgenommen wird: Welches Produkt hat sich am besten verkauft? Zu welchem Preis hat es sich am besten verkauft? Wer nicht das Durchschnittsbrot zum Durchschnittspreis wolle, werde mehr bezahlen müssen. Ein Angriff auch auf regionale Spezialitäten. „Die fallen dann irgendwann weg.“

Das sei doch viel eher ein Problem des derzeitigen stationären Handels, sagt E-Commerce-Experte Jochen Krisch. „Wir haben einen Massenmarkt, auf dem der kleinste gemeinsame Nenner verkauft wird“, sagt er. Online hingegen hätten Nischenprodukte viel größere Chancen. Deswegen hofft er auf neue Internet-Start-ups, die nicht dem großen Amazon hinterherhecheln, sondern eigene Wege gehen, zum Beispiel mit Alternativen zum datengetriebenen Ansatz von Amazon (siehe unten). Die es also anders machen als bestehende Offline-Unternehmen, die dem Online-Trend bislang nämlich nicht wirklich etwas entgegenzusetzen hatten – gut zu sehen im Buchhandel, aber auch in der Modebranche, deren Offline-Geschäft unter dem Erfolg von Zalando sehr gelitten hat.

Auch dass wir durch Amazons Vorschläge („Kunden, die dieses Produkt gekauft haben, kauften auch...“) nur noch bestimmte Produkte kaufen oder uns gar einseitig ernähren, glaubt Krisch nicht. „Das wäre für Amazon kontraproduktiv“, sagt er und verweist auf dessen Buchgeschäft: Auch dort würde nicht nur die Einkaufshistorie des Kunden berücksichtigt, sondern immer auch Neuheiten vorgeschlagen – „bis hin zu Self-Publishing-Projekten, die es im normalen Buchhandel nicht geschafft hätten“.

8. Stichwort „Datenschutz“: Weiß Amazon am Ende nicht viel zu viel über uns?

Neben den schlechten Arbeitsbedingungen der Angestellten und der möglicherweise eingestellten Steuervermeidungsstrategie wird oft auch Amazons umfängliche Datensammelei kritisiert. Um das zu verstehen, muss man sich bewusst machen, wie gut der Konzern seine Kunden kennt: ihre Bedürfnisse, ihre Vorlieben und den Inhalt ihres halben Haushalts – bald eben auch des Kühlschranks. Hinzu kommen Adressen, Konten und andere persönliche Informationen. Wahrscheinlich ist Amazon auch gar nicht schlecht darin, anhand von Einkäufen das Einkommen zu schätzen. Für Datenschützer ein Graus.

Dass Amazon auch im Lebensmittelbereich detaillierte Kundenprofile anlegen wird, bezweifelt E-Commerce-Experte Jochen Krisch folglich nicht. Aber er wirft die Frage auf, ob das nachteilig sein müsse – das könne man schließlich auch als Service empfinden. Und besitzt nicht ohnehin schon die halbe Nation Kundenkarten, mittels derer genau das geschieht: Datensammeln?

9. Und was ist mit dem Klima?

Ein weiterer Aspekt, der diskutiert wird, sobald Amazons grüne Trucks in Deutschland Essen ausliefern: der Klimaschutz. Moritz Mottschall ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Öko-Institut für angewandte Ökologie. Ob es weniger klimafreundlich sei, Lebensmittel online statt im Laden zu kaufen? Schwer zu sagen. „Da spielen viele Einflussfaktoren eine Rolle“, gibt er zu bedenken, „die wichtigsten sind die Wahl des Verkehrsmittels, die zurückgelegte Entfernung und eine Veränderung des Mobilitäts- und Einkaufsverhaltens.“ Eine Handlungsempfehlung möchte er derzeit lieber nicht aussprechen. Und wenn doch, dann diese: „Wichtiger als die Frage nach dem Wie kann die Frage nach dem Was sein: Kaufe ich regionale Bio-Produkte oder konventionelle Erdbeeren aus Spanien?“

9 ½. Was sagt eigentlich Amazon?

Wer sich übrigens gar nicht zu dem Thema äußert, ist Amazon selbst. Die Presseabteilung bedankt sich für das Interesse und verweist auf den erfolgreichen Launch in den USA. Was am Ende natürlich auch eine Aussage ist.