Die Geschichte vom Tellerwäscher, der zum Millionär wird, gehört immer noch zu den Gründungsmythen der USA. Und jeder Aufstieg aus elenden Verhältnissen hält diesen Mythos am Leben: Ob es der Rapper Jay-Z ist, der im berüchtigten Brooklyner Viertel Marcy Houses aufwuchs und heute mehr als 450 Millionen Dollar besitzt, oder Barack Obama, der wie Bill Clinton als Kind jahrelang in armen Verhältnissen lebte. Auch die erfolgreiche Medienunternehmerin Oprah Winfrey wurde als Tochter eines ledigen Teenagers im ländlichen Süden geboren. Doch nun werden die Grundfeste des alten Mythos erschüttert. Denn die Wahrscheinlichkeit des sozialen Aufstiegs hat sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Nach Ergebnissen einer Studie der Pew Charitable Trusts schaffen es 66 Prozent der Amerikaner, die im unteren Fünftel der Einkommensskala geboren werden, zeit ihres Lebens nicht in die obere Hälfte der Gesellschaft. Auf der anderen Seite gehören zwei Drittel der ins obere Fünftel Geborenen für immer zur wohlhabenderen Hälfte. Die soziale Mobilität ist in den USA also noch geringer ausgeprägt als in Europa, dessen frühere Klassengesellschaft Amerika einst als abschreckendes Beispiel galt.

Diese Erkenntnis erschreckt Republikaner und Demokraten gleichermaßen. Die Ersten aber, die Alarm schlugen, waren die Wissenschaftler – lange bevor sich der Unmut über die Ungleichheit mit der Occupy-Bewegung laut bemerkbar machte und sich die Öffentlichkeit die Frage stellte, ob Amerika auf dem Weg zur Klassengesellschaft sei. Unter den Soziologen gab es plötzlich eine schaurige Vermutung: Die Armut selbst war möglicherweise auf gewisse Weise vererbbar, und diese Vererbbarkeit der Armut führt zwangsläufig zur Entwicklung einer permanenten Unterschicht. Der Politikwissenschaftler Charles Murray behauptete bereits im Jahr 1994, dass die moderne Armut auf fatale Weise mit einem niedrigen Intelligenzquotienten zusammenhänge – und die Intelligenz in höchstem Maße vererbbar sei. Murrays Argumentation in dem Buch „The Bell Curve“ hatte dabei ein klares politisches Ziel: Der Wohlfahrtsstaat sollte sich hüten, arme Familien zu sehr zu unterstützen oder gar in arme Schulen zu investieren, weil es letztlich vergebliche Liebesmüh sei.

Das Leben im Elend kann die Gene verändern

Murrays These folgte eine Welle der Empörung, schließlich verletzte sie den amerikanischen Sinn für Gleichheit. Viele zweifelten daran, dass man Intelligenz oder die Vererbung von Intelligenz derart eindeutig messen kann, und bezeichneten die Kategorisierung der durchschnittlichen Intelligenzquotienten ganzer Gruppen als puren Rassismus. Einer der schärfsten Kritiker war der Harvard-Professor William Julius Wilson, der bestritt, dass es so etwas wie einen unveränderlichen Intelligenzfaktor gibt, der von Generation zu Generation weitergereicht wird. Laut Wilson seien es vielmehr historische, gesellschaftliche Prozesse, die bestimmte Gruppen – zum Beispiel die Schwarzen in den Industriestädten des Nordens – nachhaltig zermürbten. Arme Menschen gerieten nicht in Schwierigkeiten, weil sie für alle Ewigkeit minderbemittelt seien, sondern weil die Armut in ihnen selbst und in ihren Vorfahren ein katastrophales Erbe hinterlassen habe.

Damit entstand eine neue Debatte über die Vererbbarkeit der Armut, die nicht darauf abzielte, den Armen soziale Dienstleistungen zu entziehen, sondern, im Gegenteil, die ein Appell war, endlich ernsthaft in die ärmsten Regionen Amerikas zu investieren. Wie in den 60er-Jahren, als die Demokraten den „War on Poverty“ ausriefen – allerdings waren die finanziellen Mittel zu knapp, um in sozial schwachen Gebieten wie der New Yorker Bronx oder den Appalachen beispielsweise das Niveau der Schulbildung dauerhaft anzuheben.

Studien der letzten Jahre, wie etwa die von Eric Turkheimer von der Universität Virginia, stellen fest, dass der genetische Einfluss auf messbare Intelligenz nur in Haushalten der Mittelklasse und Oberschicht groß war. In armen Haushalten dagegen waren die schlechtere Ernährung, das Bildungsdefizit und die Erfahrungen mit Gewalt und Drogen viel ausschlaggebender. Sein Fazit: Nicht die Eltern, die in Armut leben, sondern die Lebensumstände selbst bestimmen die Intelligenz der Kinder. Die Forscher des berühmten Mount Sinai Hospital in New York gehen noch weiter. Sie behaupten aufgrund von Experimenten mit Mäusen, dass die Lebensgewohnheiten der Väter die Kinder prägen. Wenn Männer vor der Pubertät entweder sehr viel oder sehr wenig gegessen haben, weisen ihre Kinder später entsprechende Gesundheitsproblematiken auf. Genauso wie sich Gifte und Drogen, die von den Vätern konsumiert wurden, an der nächsten Generation rächen.

Eric Nestler vom Mount Sinai machte dazu folgendes Experiment mit männlichen Mäusen: Kleine Männchen wurden wiederholt mit größeren und aggressiveren Mäusen in Käfige gesetzt, bis sich vielfältige Symptome von Depression und posttraumatischen Belastungsstörungen zeigten. Die Nachkommen dieser bedauernswerten Probanden neigten ebenfalls stark zu Stress und Ängstlichkeit, verweigerten oft die Nahrung und mieden Artgenossen. Was besagt das über Menschen? Nestler betrachtet es als Hinweis dafür, dass die Erfahrungen der in Armut lebenden Väter an Kinder vererbt werden.

Wissenschaftler sind überzeugt, dass sich das Aufwachsen in Gegenden mit konzentrierter Armut besonders ungünstig auswirkt. Ist eine Gegend von Armut geprägt, haben die Kinder laut einer Studie der Pew Charitable Trusts ein erhöhtes Risiko des sozialen Abstiegs. Nur sechs Prozent der weißen Kinder Amerikas wohnen dauerhaft in solchen Gegenden, aber 66 Prozent der schwarzen. Aufgrund solch verheerender Zahlen empfiehlt Professor William Julius Wilson Projekte wie die „Harlem Children’s Zone“, die in 97 City-Blocks in Harlem Sozial- und Bildungsleistungen anbietet, um die Lebensqualität der Kinder zu erhöhen. Das Experiment gilt als so erfolgreich, dass USPräsident Obama nun ähnliche Projekte in 20 anderen Städten aufbauen will. Doch in der Wirtschaftskrise könnte das Geld für dieses Projekt leider knapp werden.