fluter.de: Ob Rio Reisers „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, „Sunday Bloody Sunday“ von U2 oder „Fuck tha police“ von N.W.A. – der Protestsong hat einen festen Platz im Stammbaum der Popmusik. Wo liegen seine Wurzeln?

Ralf von Appen: Die ersten Protestsongs, die die durch ihre Verbreitung auf Tonträgern eine überregionale Wirkung erzielt haben, waren die Folk-Stücke, die in den frühen 1960er-Jahren zum Soundtrack der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wurden. Musiker wie Bob Dylan haben damals ihre Stimme gegen den Vietnamkrieg oder die Diskriminierung der Afroamerikaner erhoben. Inspiriert wurden sie von Musikern wie Woody Guthrie, die in den 1930er- und 1940er-Jahren die Folkmusik zum Medium des Protests gemacht haben. Auch die Black Music hat diese Antihaltung in den 1960ern aufgegriffen.

Wie lautet die Gebrauchsanweisung zum Komponieren eines idealtypischen Protestsongs?

Wenn viele Leute leicht mitsingen können sollen, dann wird die Melodie nicht mehr als eine Oktave umfassen; außerdem wird dann häufig auf Halbtonschritte verzichten. Wenn die Hörer das Stück auch abends am Lagerfeuer nachsingen und nachspielen können sollen, wird man offene Akkorde wie C-Dur, A-Dur, G-Dur wählen – und keine Barré-Akkorde. Auch Schlagwörter sind wichtig, die den Song unmissverständlich als Protestlied ausweisen. Man kann nicht darauf vertrauen, dass komplette Songtexte wahrgenommen werden.

Wut und Ironie funktionieren, Pathos nicht

Wie klingen Songs mit politischer Botschaft letztlich in der Realität?

Sie spiegeln die ganze Vielfalt der Popmusik wider. Die meisten Stücke sind in Dur geschrieben, ein paar in Moll – wie unpolitische Songs auch. Sie setzen auf vertraute Muster, an die das Publikum anknüpfen kann. Eine Eigenschaft, die auch für jeden Nummer-eins-Hit typisch ist. Erst wenn der Song eingängig ist, kann er gruppenbildende Wirkung entfalten – also möglichst viele Menschen für ein politisches Thema begeistern und dazu bewegen, gemeinsam etwas zu machen. In der Zeit der US-Bürgerrechtsbewegung war ein solches Kollektiverlebnis der Marsch auf Washington im Jahr 1963.

Mit welchen Emotionen lässt sich am besten mobilisieren?

Wut kann eine Rolle spielen. Aber auch Ironie wird eingesetzt, besonders in Genres, die die politischen Traditionen der Folkbewegung weiterentwickelt haben, zum Beispiel die Punkszene. Man denke nur an die Springerstiefel tragenden Neonazis im Ärzte-Song „Schrei nach Liebe“, die heimlich Kuschelrock-LPs in ihren Plattenschränken horten. Was hingegen selten funktioniert, ist Pathos. Er wirkt dick aufgetragen, geschauspielert und daher nicht authentisch. Weshalb sogar ein Song wie John Lennons Friedenshymne „Imagine“, die von einer Utopie handelt, nie pathetisch wird.

Aktuell erscheinen viele Protestsongs. Die Gorillaz etwa haben den Anti-Trump-Song „Hallejuh Money“ einen Tag vor der Inauguration des neuen US-Präsidenten auf den Markt gebracht. Was halten Sie von diesem Song?

Auf der musikalischen Ebene ist der Song sehr elektro-informiert, auf der Höhe der Zeit, ohne jeden Retro-Touch. Vor allem aber ist er sperrig – weil er eben nicht auf den üblichen Viervierteltakt setzt, sondern verschiedene Dreier-Metren mit sehr ungewöhnlichen Betonungen kombiniert. Die Musik soll den Hörer irritieren. Deshalb handelt es sich auch nicht um einen klassischen Protestsong. Einen politischen Hintergrund hat er dennoch: Die Rhetorik Donald Trumps soll auf eine witzig-intelligente Art lächerlich gemacht werden. Damon Albarn singt von einem Baum voller Früchte („tree of fruits“), der den American Dream symbolisiert und von Parasiten bedroht zu sein scheint. Diese sind allerdings nur Vogelscheuchen („scarecrows“), also Attrappen, bloße Hirngespinste. Eine Metapher für die paranoide Angst vor Einwanderern, die Trump im Wahlkampf entfacht hat. Der Song ist letztlich ein intellektuelles Rätsel, das die Hörer dechiffrieren sollen. Eine Klientel außerhalb der eigenen linksliberalen Community wird man damit allerdings nicht erreichen.

Auch die kanadischen Indierocker Arcade Fire haben jüngst ihren Widerspruchsgeist entdeckt – mit der Hymne „I give you power“, einer Single, die im Januar 2017 erschienen ist, ebenfalls in zeitlicher Nähe zur Amtseinführung Trumps. 

Dieser Song ist ein gutes Beispiel, wie eine Band vertraute musikalische Motive aufgreift. Die Melodie übernimmt das zentrale moll-pentatonische Motiv aus Ray Charles’ „I Got A Woman“. Diese Soul-Nummer aus den 1950ern ist so populär, dass auch schon Kanye West in seinem Track „Gold Digger“ Samples daraus eingewoben hat. Der Arcade-Fire-Song verzichtet zudem über weite Strecken auf jegliche Akkordwechsel. Der den Song tragende „Call & Response“-Gesang – der Sänger singt etwas vor, ein Chor antwortet ihm – ist eine Anleihe aus dem Gospel. Damit wird die Idee des Empowerments durch Black Music wiederbelebt. Umso einleuchtender wird diese Intention, weil Marvis Staples als Gastsängerin auftritt, eine Soul- und Bluessängerin, die in den 1960ern mit den Staple Singers die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung musikalisch unterstützt hat. Eine Kategorisierung als Protestsong fällt mir allerdings schwer, weil der Text zu unverbindlich ist. Es wird davon gesungen, dass jemand jemandem die Macht wegnehmen kann („I give you power / I can take it away“). Aber ein Missstand, eine handelnde Person oder eine realistischer Weg der Entmachtung wird nicht genannt. Die politische Absicht wird vielleicht klarer durch ein Interview, das Win Butler, der Arcade-Fire-Sänger, zeitgleich mit der Veröffentlichung des Songs gegeben hat. Er forderte, dass man gemeinsam gegen Trump aufbegehren müsse. Trotzdem: Wäre ich Despot, würde mir der Song keine schlaflosen Nächte bereiten.

Was wäre denn ein Beispiel für einen aktuellen Protestsong, der gelungen ist?

Viel konkreter werden aktuell die Songs, die die Black Lives Matter-Bewegung unterstützen: Beyoncés „Freedom“, Lauryn Hills „Black Rage“, Tom Morellos „Marching on Ferguson“ oder D’Angelos „Charade“.

Subversiv aufgeladener Pop passt gut zu unserer politisierten Gegenwart. Machen Bands Protestsongs auch aus PR-Gründen?

In einer gesellschaftlich polarisierten Atmosphäre einen politischen Song zu veröffentlichen ist natürlich auch eine Promo-Handlung – vor allem, wenn man in den Jahren zuvor von der Bildfläche verschwunden ist und sich mit neuem Material zurückmeldet wie Arcade Fire und die Gorillaz. Wenn man dann allerdings so verwässert bleibt wie Arcade Fire in „I give you power“, wird man damit keinerlei Wirkung damit erzielen. Aber ich würde der Band nicht unterstellen, dass nur Kalkül dahinter steht, eher soll wohl einer noch diffusen Angst angesichts der Trump-Wahl Ausdruck verliehen werden.

Ralf von Appen arbeitet am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik an der Uni Gießen. Er ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Popularmusikforschung und Autor des Buchs „Der Wert der Musik - Zur Ästhetik des Populären“ (Transcript Verlag, 2007).

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