Am Muttertag 2012 las Taryn Wright einen Facebook-Post, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Ein Kanadier hatte über seine eben verstorbene Frau geschrieben, mit der er elf Kinder hatte. Ihr letztes Kind habe sie im Bauch getragen, als ein Betrunkener frontal in ihren Wagen gefahren sei. Das Kind habe überlebt, aber sie selbst sei getötet worden. Ein anderer Sohn, Eli, habe damals gerade gegen seine Krebserkrankung gekämpft – weswegen er von Besuchern der Facebook-Seite „Warrior Eli“ (Krieger Eli) getauft wurde. „Es war eine der traurigsten Geschichten, die ich je gehört habe“, so Wright.

Sie war nicht die Einzige, der die Geschichte naheging. Schnell wurde der Post von Tausenden gelikt und ein viraler Hit. Taryn Wright wollte mehr über die Familie Dirr wissen und stieß auf Blogs, Myspace-Seiten, Online-Fotoalben und weitere Facebook-Gruppen. Sie fand Geschichten über weitere tragische Unfälle und sogar mysteriöse Mordfälle. Das in den sozialen Medien dokumentierte Leben der Familie wirkte wie eine Seifenoper.

Münchhausen-Syndrom nennen es die Psychologen

Weil aber viele Fotos von anderen Blogs und Seiten geklaut zu sein schienen, kamen Wright Zweifel, ob es die Dirr-Familie überhaupt gibt. So gründete sie einen eigenen Blog, die „Warrior Eli Hoax Group“, und veröffentlichte die Ergebnisse ihrer Suche. Bald schon besuchten täglich haufenweise Menschen ihre Seite, und schnell kam heraus: Die gesamte Familie Dirr und ihre harten Schicksalsschläge waren die Erfindung der 22-jährigen Medizinstudentin Emily Dirr. Sie habe die Leidensgeschichten über Jahre aus Langeweile erdacht, schrieb sie auf Wrights Blog und bat alle um Entschuldigung.

Wie krank ist das denn1

Emoji mit Kopfverband liegt auf einem Sofa (Foto: Renke Brandt)

Du siehst aber schlecht aus: Im Internet...

(Foto: Renke Brandt)

Wright selbst war sich sicher, dass Emily Dirr nicht die Einzige war, die mit unglaublichen Krankheitsgeschichten im Internet Aufmerksamkeit erregte. Sie ging auf die Jagd und mit ihr Hunderte Mitstreiter, die schon bald fündig wurden. Schlagzeilen machte etwa der Fall der Australierin Belle Gibson, die angeblich an Krebs litt. Von ihrem Leiden, von den Ängsten und Hoffnungen berichtete sie auf Twitter und Instagram. Zehntausende folgten – und fieberten mit, als endlich eine Therapie anschlug. Ein exotischer Mix aus vitaminreicher Ernährung, Sauerstoffinhalation, Darmspülungen und Ayurveda- Behandlungen habe ihr geholfen, verbreitete Gibson. Damit andere Betroffene ihren gesunden Lebensstil nachahmen konnten, entwickelte sie eine App mit genauen Instruktionen. Diese App verkaufte sich mehr als 300.000 Mal, und die Zeitschrift „Elle“ kürte Gibson zur inspirierendsten Frau des Jahres 2014. Kurz darauf kam heraus, dass alles gelogen war. Belle Gibson hatte nie Krebs gehabt.

In den meisten fiktiven Krankheitsgeschichten, auf die Wright stieß, schien es nicht um Geld, sondern eher um Aufmerksamkeit zu gehen. Münchhausen-Syndrom nennen es Psychologen, wenn Menschen körperliche Beschwerden erfinden oder sich sogar selbst verursachen, um sich dann an ihre Mitmenschen zu wenden. Mit dem Internet gibt es eine Plattform, die es den Betroffenen leicht macht, weltweit Aufmerksamkeit zu erregen und Mitgefühl zu bekommen.

Mehr als 100 Fälle der Internetvariante des Syndroms hat Marc D. Feldman, Psychologie-Professor an der Universität von Alabama, untersucht. „Die Menschen sehnen sich danach, das Gefühl zu haben, von anderen Menschen umsorgt zu werden. Dieses Gefühl können sie auf andere Weise nicht bekommen“, sagt Feldman. Hätten sie einmal damit angefangen, wäre es schwierig, wieder aufzuhören. „Das Mitleid und die Bewunderung für ihre Tapferkeit, die sie in einem Forum oder einem Blog bekommen, ist für sie wie eine Sucht, auch wenn sie nicht wirklich leiden.“ Die Vortäuschung sei ein weiterer entscheidender Faktor. Sie gebe den Betroffenen das Gefühl, sich selbst und andere kontrollieren zu können. Oft hätten die Betroffenen genau die Anteilnahme, die sie im Internet bekommen, in ihrer Kindheit vermisst. Komplett bizarr wird es, wenn die Menschen sogar das Münchhausen-Syndrom vortäuschen. Auch davon hätte er einige Fälle gehabt, sagt Feldman.

Das Internet macht es den Betroffenen leicht

In der Realität eine Krankheit glaubhaft vorzutäuschen ist gar nicht so einfach. Nicht zuletzt, weil man dafür Menschen ins Gesicht lügen muss. Das ist virtuell nicht nötig. Eine Online-Identität ist anonym, verformbar und leicht zu erzeugen. Es ist auch kein Problem, medizinische Fachliteratur im Internet zu finden, um die vermeintlichen Krankheiten realitätsnah darzustellen. „Niemand muss in Bibliotheken gehen, um sich sein Wissen über die jeweilige Krankheit anzueignen. Ein paar Klicks bei Wikipedia reichen aus“, sagt Feldman.

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Emoji mit Fieberthermometer im Mund steht vor dem Badezimmerspiegel (Foto: Renke Brandt)

...kursieren viele fiktive Krankheitsgeschichten

(Foto: Renke Brandt)

Doch die Anonymität des Internets verstärkt offenbar auch die Wut derer, die auf die vermeintlich Kranken hereingefallen sind. So sah sich Emily Dirr über Wochen einem regelrechten Shitstorm gegenüber. Mit einer weiteren Bestrafung musste sie aber nicht rechnen. Das reine Vortäuschen einer falschen Identität auf einer Facebook-Seite ist nur in den seltensten Fällen strafrechtlich von Belang und wird dementsprechend auch nicht verfolgt.

Taryn Wright selbst hat ihre Blogeinträge deutlich zurückgefahren. Statt Hunderter Online-Detektive sind nur noch vier Bekannte von ihr an der Jagd auf die falschen Kranken beteiligt. Meist veröffentlicht die Gruppe aufgeklärte Fälle gar nicht mehr, sondern informiert die Betrüger und schlägt ihnen vor, sich psychisch behandeln zu lassen. „Wir möchten die Menschen nicht diffamieren“, sagte eine Aktivistin des Blogs einer Reporterin des britischen „Guardian“. „Sie leiden an einer geistigen Erkrankung. Ich hoffe für sie, dass wir sie dazu bringen können, damit aufzuhören und ein besseres Leben zu führen.“