Er sei eigentlich kein politischer Mensch gewesen, sagt Mahmoud (Name geändert; Anm. d. Red.). Das wurde er erst, als 2011 der Arabische Frühling in seiner Heimat Syrien anbrach, als das Assad-Regime die ersten Demonstranten niederschießen ließ. Als ihn der Geheimdienst inhaftierte, mit Elektroschocks folterte und Zigaretten auf seinem Körper ausdrückte. Da wurde er zum Aktivisten: Er schnappte sich seine Kamera, filmte die Demonstrationen und die Gewalt des Regimes – und postete alles auf Facebook und YouTube. Das brachte ihn weitere drei Male ins Gefängnis. „Beim nächsten Mal hätten mich Assads Leute umgebracht“, sagt er heute. Also floh er.

Zwei Jahre später lebt der 24-Jährige in Berlin. In den sozialen Netzwerken ist er immer noch täglich aktiv. Diesmal jedoch, um seine Peiniger von einst zu suchen. Denn einige von ihnen, so fürchtet er, sind ebenfalls hier. In Deutschland. Für Flüchtlinge wie Mahmoud ist die Situation seit den Anschlägen von Paris nicht leichter geworden. Sechs der zehn Attentäter von Paris waren zwar EU-Bürger, bei zweien ist die Identität noch ungeklärt. Die beiden anderen Attentäter trugen jedoch syrische Pässe bei sich – der eine war gefälscht, der zweite gehörte einem zuvor getöteten syrischen Soldaten. Die in Teilen der Gesellschaft existierenden Ängste vor Fremden hat das noch verschärft. Auf Facebook, Twitter & Co. kursieren inzwischen Bilder von Flüchtlingen, die sich genötigt fühlen, sich von den Gräueltaten zu distanzieren. Eigentlich absurd: Denn es sind ja genau diese Gräueltaten, vor denen sie selbst geflohen sind. Mehr noch: Viele Flüchtlinge fürchten auch hier, im vermeintlich sicheren Europa, ihren Feinden aus der Heimat zu begegnen. Das gilt insbesondere für Syrer.

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(Foto: Facebook)

Schon länger ist es unter weltweit über vier Millionen Exilsyrer üblich, sich in den sozialen Netzwerken zu warnen, etwa, indem man Fotos von scheinbar ins Ausland geflüchteten Verbrechern postet. Dass der „Islamische Staat“ die Flüchtlingsroute nutzt, um Attentäter nach Europa zu schicken, ist allerdings unwahrscheinlich. Er hat – wie Paris auf tragische Weise bestätigt hat – bereits genug Anhänger auf dem Kontinent.

Viele Exilsyrer fühlen sich vor allem von anderer Seite bedroht: von den ehemaligen Schergen Baschar al-Assads. Dem syrischen Diktator gehen die Soldaten aus. Zehntausende sind seit März 2011 aus der syrischen Armee desertiert oder haben ihren Dienst gar nicht erst angetreten. Viele, so ist zu vermuten, sind nach Europa geflohen.

Eines der Netzwerke, mit denen sie und andere Anhänger Assads aufgespürt werden sollen, ist die Facebook-Gruppe „Murderers not refugees“. Ein Netzwerk, das wie ein digitaler Pranger funktioniert: Mitglieder posten Fotos vermeintlicher Soldaten und Milizionäre, die sich ins Ausland abgesetzt haben. Wer sie erkennt oder sich in dem selben Land aufhält, soll sie den Behörden melden. Knapp 900 Mitglieder zählt das Netzwerk derzeit, die meisten von ihnen sind Syrer, die im Ausland leben.

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Die Fotos sind verstörend, auch für uns. Weil sie unsere Wahrnehmung der Flüchtlinge betreffen. Man sieht junge Männer und Frauen, freundlich lächelnd vor dem Brandenburger Tor, auf deutschen Bahnhöfen, neben deutschen Polizi (Foto: Facebook)
(Foto: Facebook)

Die Fotos sind verstörend, auch für uns. Weil sie unsere Wahrnehmung der Flüchtlinge betreffen. Man sieht junge Männer und Frauen, freundlich lächelnd vor dem Brandenburger Tor, auf deutschen Bahnhöfen, neben deutschen Polizisten. Es sind Bilder, wie wir sie aus den Nachrichten kennen: Bilder von Menschen, die glücklich sind, Europa erreicht zu haben. Direkt daneben jedoch: ältere Fotos derselben Menschen – diesmal in Militäruniform, mit Gewehren in der Hand. Manchmal vor zerstörten Häusern, manchmal vor einem Berg von Leichen. Oft mit Stolz im Gesicht. Bei vielen Männern auf den Fotos, so die Facebook-Gruppe, könnte es sich um Mitglieder der Schabiha-Milizen handeln, einer alawitischen Kampfgruppe, die im Auftrag von Assads Cousins gemordet und gefoltert hat. In Syrien gelten sie als die „Geister des Regimes“.

Das Netzwerk lebt von der Dummheit dieser Leute

Das Netzwerk lebe von der Dummheit dieser Leute, sagt Mahmoud, der das Forum regelmäßig nutzt. Viele ehemalige Milizionäre hätten ihre Gräueltaten auf Facebook gepostet und würden dort nun auch ihren aktuellen Wohnort in Europa angeben. Fünf Fälle habe er bereits zur Anzeige gebracht, sagt er. Allerdings mit wenig Aussicht auf Erfolg. Die Verfolgung steht vor vielen Hürden, ob die Vorwürfe tatsächlich stimmen, ist schwierig zu ermitteln. Foto- und Videoaufnahmen sind zwar ein wichtiges Beweismittel, für eine Verurteilung reichen sie – nicht zuletzt, weil man sie manipulieren kann – jedoch meist nicht aus. Dafür braucht es die Aussagen von Zeugen oder Opfern.

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Zudem ist es schwer, die Menschen überhaupt ausfindig zu machen. Seit für syrische Flüchtlinge in Deutschland das beschleunigte Asylverfahren gilt, müssen sie nicht mehr zu den sonst üblichen persönlichen Anhörungen ersc (Foto: Facebook)
(Foto: Facebook)

Zudem ist es schwer, die Menschen überhaupt ausfindig zu machen. Seit für syrische Flüchtlinge in Deutschland das beschleunigte Asylverfahren gilt, müssen sie nicht mehr zu den sonst üblichen persönlichen Anhörungen erscheinen. Es genügt, einen Fragebogen auszufüllen, bei dem sie etwa ankreuzen müssen, ob sie in der Heimat Mitglied der Armee oder einer sonstigen bewaffneten Gruppierung waren. Überprüft werden die Angaben nicht. Ein Schlupfloch?

Syrische Terroristen und Kriegsverbrecher sind unter den Asylbewerbern in Deutschland die absolute Ausnahme. 140 derartige Hinweise sind beim Bundeskriminalamt bislang eingegangen, die meisten seien nach Angaben einer Sprecherin Verwechslungen und falsche Behauptungen. In 20 Fällen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Demgegenüber stehen über rund 290.000 syrische Flüchtlinge, die allein dieses Jahr in Deutschland registriert wurden. Hinzu kommen weitere zigtausend, die noch nicht erfasst sind.

Für Mahmoud ist das jedoch kein Argument, von seiner Suche abzulassen. „Diese Menschen waren der Grund, warum ich mein Land verlassen musste“, sagt er. „Ich verstehe nicht, warum sich niemand ernsthaft mit ihnen befasst.“ Er wünscht sich eine Rückkehr zu strengeren Prüfverfahren. Solange es die nicht gibt, würden er und andere Aktivisten auf eigene Faust weitersuchen – im Netz.

 

Sascha Lübbe ist Redakteur der drehscheibe, des Magazins für Lokaljournalismus der bpb, und freier Journalist. In seinen Artikeln befasst er sich vor allem mit der Situation von Flüchtlingen weltweit.