Das „Weltcafé“ ist voll: Menschen aller Hautfarben und Altersstufen essen Kuchen und trinken Biolimonade. Die Decke ist gespickt mit bunten Quadraten, auch die Stühle sind orange, grün, blau oder rosa. Man soll gleich sehen: Schwarz-weiß-Denken gibt es hier nicht.

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cms-image-000048771.jpg (Foto: Ilvy Njiokiktjien/Redux/laif)
(Foto: Ilvy Njiokiktjien/Redux/laif)

Gleich nebenan ist das sogenannte Welcome Center. An der Servicetheke steht ein junges Paar aus Portugal und fragt, wie es an Jobs kommen kann. „Wir geben eine erste Orientierung für Neubürger“, sagt die Leiterin Suzana Hofmann. „Es gibt keine Frage, die hier nicht gestellt werden darf.“ Stolz stellt sie ihre Crew vor und führt durch den hellen Raum im Erdgeschoss eines alten Waisenhauses, das Weltcafé und Welcome Center beheimatet. „Nur eine Antwort haben wir uns selbst verboten“, sagt Hofmann. „Und zwar: Wir sind nicht zuständig.“

Das Welcome Center am Charlottenplatz ist die Pforte zu einer Stadt, die für ihre Integrationspolitik berühmt ist: Zurzeit leben in Stuttgart 602.300 Menschen, davon haben mehr als 42 Prozent einen Migrationshintergrund. Unter Kindern und Jugendlichen sind es sogar 60 Prozent. Einen höheren Anteil gibt es unter den Städten vergleichbarer Größe nur in Frankfurt am Main.

Im Jahr 2001 erklärte der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Schuster Integration zur Chefsache. Er schuf dafür eine eigene Stabsstelle in der Stadtverwaltung, mit großer Gestaltungsfreiheit und kurzen Dienstwegen. Diese „Abteilung Integration“ widmet sich in etlichen Projekten der Chancengleichheit, dem Abbau von Diskriminierung und dem friedlichen Zusammenleben. Kulturelle Vielfalt soll als Vorteil und nicht als Problem verstanden werden.

„Es liegt in unserem Interesse, dass noch viel mehr Leute zu uns nach Stuttgart kommen.“

„Wie wir die Leute bei ihrer Ankunft behandeln, bestimmt auch darüber, wie sie und ihre Kinder sich später in der Gesellschaft verhalten“, sagt Suzana Hofmann. Sie selbst stammt aus Mazedonien und ist ihrem deutschen Ehemann nach Stuttgart gefolgt. Die deutsche Bürokratie sei ein Dschungel, in den sich viele gar nicht erst hineinwagten. „Früher sind zu viele durchs Raster gefallen und bestenfalls Taxifahrer geworden“, sagt Hofmann. Gleichzeitig werde die Liste der Berufe mit freien Stellen immer länger. „Es liegt in unserem Interesse, dass noch viel mehr Leute zu uns nach Stuttgart kommen.“

Die Stadt vereint vieles, was als typisch deutsch gilt. Hier herrschen Wohlstand, Sauberkeit und Ordnung. Die Konzerne Daimler, Porsche und Bosch exportieren Autos und Maschinen made in Germany; schwäbische Vermieter legen größten Wert auf die Einhaltung der Kehrwoche – das sind eherne Regeln, wer wann was zu fegen und zu schrubben hat. Klingt nicht gerade nach einer Umgebung, in die sich Menschen aus anderen Kulturen leicht einfügen – doch es scheint zu klappen.

„Natürlich haben wir es mit der Integration in Stuttgart leichter als anderswo“, sagt Martha Aykut von der Abteilung Integration. „Wir leben in einer wirtschaftlich blühenden Region.“ Und auch wenn die Schwaben anfangs vielleicht skeptisch gegenüber Fremdem seien: Mit harter Arbeit könne man sie immer überzeugen.


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Hier feiert Manfred Rommel mit seiner Frau die Wahl zum Oberbürgermeister. Wenn es darum ging, die Kulturen zu vereinen, konnte er aber auch anders – wunderbar stur

(Foto: picture alliance/UPI)

Die Erfolgsgeschichte des Stuttgarter Integrationsmodells begann schon mit dem Oberbürgermeister Manfred Rommel, der die Stadt von 1974 bis 1996 regierte. Der CDU-Mann konnte wunderbar stur sein, vor allem wenn es darum ging, die Kulturen zu vereinen. Als viele noch dachten, dass die Gastarbeiter bald wieder heimkehren würden, wurde im Stuttgarter Sozialamt eine Stelle für einen Ausländerbeauftragten geschaffen. 1983 wurde auf Initiative des Oberbürgermeisters ein Ausländerausschuss gewählt – bundesweit einer der ersten zur Beteiligung ausländischer Einwohner im Gemeinderat. „Wir sind alle Stuttgarter“ lautete Rommels Devise. Als in den Achtzigern ein Afrikaner zwei Polizisten tötete, stellte er sich vor die wütenden Bürger und sagte: „Es hätte auch ein Schwabe sein können.“

Statt Gettos sollte in Stuttgart ein Miteinander entstehen. Man achtete darauf, dass die Stadtteile ethnisch durchmischt waren. Wenn Vereine einer bestimmten Volksgruppe bei der Stadt um finanzielle Unterstützung baten, mussten sie ihre Veranstaltungen für alle Bürger öffnen. In den Neunzigern setzte sich Rommel außerdem stark für die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft ein – zum Ärger vieler Parteigenossen.

Bis heute wurde die Integrationsarbeit stetig weiterentwickelt: Unter dem Dach des „Forums der Kulturen Stuttgart“ haben sich seit 1998 mehr als 100 Migrantenvereine zusammengefunden, die einmal im Jahr ein großes Sommerfestival ausrichten. Und dank des Programms „Deine Stadt – deine Zukunft“ haben mittlerweile immerhin 40 Prozent der Auszubildenden bei der Stadt Stutt
gart einen Migrationshintergrund. Weil Sprachkurse die Basis für ein Leben in der deutschen Gesellschaft bilden, kann in Stuttgart mittlerweile jeder Neuankömmling einen besuchen – selbst Asylsuchende, deren Anerkennung aussichtslos ist, schließlich kann eine Ablehnung Jahre auf sich warten lassen.

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cms-image-000048772.jpg (Fotos: picture-alliance/dpa; Maximilian Stock Ltd./Getty Images)

Für die Gastarbeiter gab es viele Jobs, etwa in der Autoindustrie

(Fotos: picture-alliance/dpa; Maximilian Stock Ltd./Getty Images)

Und im Projekt „Mama lernt Deutsch“ werden speziell Frauen ermutigt, sich am Schulleben ihrer Kinder zu beteiligen. Solche Kurse gibt Sevdije Demaj seit mittlerweile 14 Jahren an der Martin-Luther-Schule im Stadtteil Bad Cannstatt. Sie kennt die Situation der Frauen gut, weil sie selbst als Flüchtling aus dem Kosovo kam und kein Wort Deutsch sprach. „Die Frauen müssen sich selbst etwas wert sein. Wenn sie selbstlos sind, nützen sie auch der Gesellschaft nichts“, sagt Demaj. Es ist neun Uhr morgens. Allmählich trudeln die Frauen ein, die meisten stammen aus Osteuropa, andere aus dem Irak, Afghanistan, Eritrea oder Griechenland. Manche haben außer ihren Schulkindern noch Kleinkinder, die im Klassenzimmer nebenan betreut werden.

Thema heute: Wie kann ich mein Kind beim Lernen unterstützen? Ein Kurs dauert 300 Stunden. Demaj hat mittlerweile Tausende Frauen beim Deutschlernen begleitet: „Wenn sie einmal hier sind, ziehen sie den Kurs auch durch“, sagt sie. „Es sei denn, sie finden in der Zwischenzeit einen Job. Und das ist dann auch ein Erfolg für uns.“ Natürlich ist auch in Stuttgart nicht alles perfekt. So warten Flüchtlinge oft monatelang, um einen Termin bei der überlasteten Ausländerbehörde zu bekommen. Auch Wohnungen und Plätze in Sammelunterkünften sind chronisch knapp. Dafür ist der Rückhalt in der Bevölkerung groß: Die Abteilung für Integration koordiniert rund 3.000 ehrenamtliche Flüchtlingshelfer. Rentner hel
fen Hauptschülern beim Übergang in den Beruf, und bei „A˘gabey-Abla“ („großer Bruder – große Schwester“) lernen türkischstämmige Gymnasiasten und Studenten mit jüngeren türkischstämmigen Schülern.

Integration funktioniert in Stuttgart auch, weil in jedem Stadtteil Orte der Begegnung entstanden sind: Jugendzentren, Generationen- und Familienhäuser haben sich zu interkulturellen Treffpunkten entwickelt. Das Generationenhaus Heslach ist einer davon. In den oberen Stockwerken gibt es eine Kinderbetreuung sowie eine Pflegestation für junge Patienten mit Multipler Sklerose oder anderen schweren neurologischen Erkrankungen. Darunter treffen sich Kulturvereine der Albaner, der Ägypter oder der Bangladescher. Im Erdgeschoss steht das „Café Nachbarschafft“ allen offen.

Integration funktioniert in Stuttgart auch, weil in jedem Stadtteil Orte der Begegnung entstanden sind

Ein paar Senioren sitzen dort neben einer jungen MS-Patientin mit Rollstuhl. Feixende Jugendliche mit schwarzen Haaren und Baseballjacken stürmen herein, während an der Theke eine Frau aushilft, die aus dem Iran geflüchtet ist. Kaffee und Tee gibt es gegen eine Spende.

Jeden Abend um 17 Uhr findet hier das sogenannte Flüchtlingscafé statt. An einem Tisch warten schon Mohammed und Rashid, zwei junge Männer aus Syrien, die Deutsch üben wollen. Die letzten Monate haben sie in Ostdeutschland verbracht. Mit weiten Augen zählt Mohammed all die Orte auf, an denen sie gelandet waren: „Prenzlau, Eisenhüttenstadt, Frankfurt (Oder) …“ Überall dort sei es unmöglich gewesen, Kontakt zu den Einheimischen aufzunehmen. „Die Menschen haben uns nicht mal angeschaut“, sagt er. Stuttgart sei für beide wie eine andere Welt. Rashid nickt lächelnd und streckt beide Daumen in die Luft. Dann setzt sich ein blonder Teenager zu ihnen an den Tisch und diktiert den beiden neuen Stuttgartern ein paar deutsche Sätze in ihre Notizblöcke.