Der Protest vor dem Französischen Dom in Berlin Ende August erregte Aufsehen. In der Kirche wurden menschliche Schädel, die während der Kolonialzeit geraubt worden waren, an die Nachfahren der namibischen Völker der Herero und Nama übergeben. Draußen hielten Herero- und Nama-Aktivisten eine Mahnwache. Auf Plakaten forderten Frauen in bodenlangen grünen und roten Röcken und mit großen Hüten sowie Männer in beigefarbenen und roten Uniformen eine Entschuldigung für den Völkermord in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Der Grund ihrer Forderungen liegt schon über 100 Jahre zurück.

„Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschossen. Ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen.“ Mit diesem Befehl von Generalleutnant Lothar von Trotha begann am 2. Oktober 1904 der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. Im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, schlug die deutsche Kolonialtruppe den Widerstand der Herero und Nama bis 1908 gnadenlos nieder. Schätzungsweise bis zu 100.000 Menschen verdursteten in der Omaheke-Wüste oder starben im Kampf und in Konzentrationslagern.

Vor, während und nach dem Genozid sammelten Wissenschaftler und Militärärzte menschliche Schädel und schickten sie als Forschungsobjekte nach Deutschland. Die Untersuchungen dienten dazu, rassistische Theorien zu untermauern und den kolonialen Herrschaftsanspruch zu legitimieren. „Die Herero-Frauen mussten die Schädel damals kochen und mit Glasscherben säubern. Die Körper haben die Deutschen ins Meer geworfen und die Köpfe nach Deutschland gebracht. Das ist schwer zu verstehen“, sagt Israel Kaunatjike.

Der 71-jährige Berliner Herero-Aktivist setzt sich seit mehr als 15 Jahren für die Aufarbeitung des Völkermords ein. Er besucht Schulen und klärt dort über Deutschlands koloniale Vergangenheit auf. Denn diese und Deutschlands erster Völkermord schienen im gesellschaftlichen Bewusstsein lange verdrängt zu sein. Doch seit dem 100. Jahrestag des Genozids 2004 werden die Stimmen der Nachfahren von Herero und Nama lauter, die seit vielen Jahren die Anerkennung des Genozids, eine Entschuldigung und Entschädigung fordern.

Seitdem wurde einiges erreicht: Ende August gab man zum dritten Mal geraubte menschliche Gebeine an Namibia zurück, bereits 2011 und 2014 gab es Rückführungen. „Die nächsten Schritte müssen die Anerkennung des Völkermords und eine offizielle Entschuldigung sein“, sagt Israel Kaunatjike. „Wir wollen Anerkennung, Würde, Menschenwürde, das ist für uns das Wichtigste überhaupt. Es geht nicht nur um Geld, es geht um Respekt.“

Doch auf eine offizielle Entschuldigung warten die Nachfahren von Herero und Nama bisher vergeblich. In den vergangenen Jahren haben sich zwar verschiedene deutsche Politiker bei den Herero und Nama für die „Gräueltaten“ entschuldigt und den Kolonialkrieg als Völkermord bezeichnet. Doch die Bundesregierung hat den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts bis heute nicht offiziell anerkannt. Sie hat aber auf eine parlamentarische Anfrage der Linken hin bestätigt, dass die Einschätzung als Völkermord die offizielle Position der Bundesregierung sei, allerdings betont, dass es sich dabei um eine „historisch-politische“ und keine „rechtliche Einschätzung“ handle. Da die UN-Völkermordkonvention von 1948 nicht rückwirkend gelte, könnten keine Rechtsfolgen geltend gemacht werden. Grund für dieses Lavieren um das richtige Wort für den Genozid ist die Angst, dass rechtliche Ansprüche auf Entschädigungszahlungen entstehen könnten.

Und so verhandeln die deutsche und die namibische Regierung seit 2015 darüber, wie eine Entschuldigung for- muliert sein soll, wobei die Nachfahren der Herero und Nama nicht mit am Verhandlungstisch sitzen, was Aktivisten wie Israel Kaunatjike kritisieren. „Die namibische Regierung kann uns nicht vertreten, sie spricht nicht für uns“, sagt er. Tatsächlich richtete sich der Vernichtungsbefehl damals explizit gegen die Herero und Nama; die Owambo, die heute mehrheitlich die Regierung stellen, waren vom Völkermord nicht betroffen. Weil sie sich von den Verhandlungen ausgeschlossen fühlten, haben Vertreter von Herero und Nama daher im Januar 2017 an einem Bundesbezirksgericht in New York eine Sammelklage gegen Deutschland eingereicht – und berufen sich dabei auf eine UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker, wonach sie sich an Entscheidungsprozessen, die ihre Rechte berühren, beteiligen dürfen. Das Gericht in New York prüft derzeit, ob es für die Klage zuständig ist. Die Bundesregierung hält den Prozess für unzulässig und beruft sich auf den völkerrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität, wonach ein Land nicht über ein anderes richten darf. Zudem sei die jetzt lebende Generation der Urenkel nicht unmittelbar von dem Genozid betroffen und habe daher keinen Anspruch auf Entschädigung.

Immerhin: In dieser Legislaturperiode steht zum ersten Mal die Aufarbeitung des Kolonialismus im Koalitionsvertrag. Der Soziologe Reinhart Kößler, der zahlreiche Artikel und Bücher zur Aufarbeitung des Genozids veröffentlicht hat, hält nun eine Bundestagsresolution für geboten. „In der Resolution könnte stehen: Wir erkennen an, dass das passiert ist, es tut uns leid, wir würden es am liebsten ungeschehen machen, wir entschuldigen uns und sind bereit, darüber zu reden, was die Folgen sind“, sagt Kößler. „Damit hat man sich in keiner Weise festgelegt, das ist nur eine Klärung der Atmosphäre.“ Die Verhandlungen mit Namibia nimmt Kößler als respektlos wahr. Es sei absurd, zu glauben, man müsse bei einer Entschuldigung mit dem, bei dem man sich entschuldigen will, verhandeln. „Wenn ich jemandem schweres Unrecht angetan habe, dann gibt es Konsequenzen. Die Täterposition kann nicht bestimmen, was passiert.“

Bisher lehnt die Bundesregierung Entschädigungszahlungen auch mit der Begründung ab, dass man an Namibia aufgrund der „besonderen Verantwortung“ das höchste Entwicklungsgeld pro Kopf zahle. Vertreter der Herero und Nama kritisieren jedoch, dass dieses Geld nicht bei ihnen ankomme. „Die Herero und Nama leben heute in völliger Armut. Wir wollen das Land zurück, auf dem wir früher gelebt haben“, sagt Israel Kaunatjike. Das Farmland der Herero und Nama wurde nach dem Völkermord enteignet und an deutsche Siedler verkauft. Mehr als die Hälfte des kommerziellen Farmlands in Namibia gehört heute Weißen, die sechs Prozent der namibischen Bevölkerung ausmachen; viele von ihnen sind Nachfahren deutscher Siedler. „Es geht darum, den Schaden wiedergutzumachen, der angerichtet wurde“, sagt Israel Kaunatjike. „Wir wollen Gerechtigkeit. Wir warten schon 100 Jahre, aber wir werden niemals aufgeben.“