Thema – Identität

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So ist es, wir zu sein: Multiple Persönlichkeit

Fay teilt sich einen Körper mit mehreren Personen. Auf TikTok erzählen sie ihre Geschichten

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Am Anfang haben wir uns über Dinge gestritten wie: Essen wir heute etwas Gesundes oder Ungesundes? Lassen wir uns tätowieren oder piercen? Wen finden wir sympathisch? Wir sind ein bisschen wie eine Familie, die sich mal anzickt, sich letztendlich jedoch gut versteht. Unser Körper ist wie ein Haus, in dem jeder sein Zimmer hat, es aber auch Gemeinschaftsräume gibt, in denen man sich miteinander unterhalten kann.

Die dissoziative Identitätsstörung (DIS) – früher Multiple Persönlichkeitsstörung genannt – ist eine spezielle Form der dissoziativen Störungen. Im neuen ICD-11-Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen der WHO, das ab 2022 offiziell gilt, wurde sie in DIS umbenannt und das erste Mal als eine eigenständige Störung ausführlich definiert. Dadurch soll die Diagnose fundierter und die Therapiewahl einfacher werden. Wie viele Menschen mit einer DIS leben, ist nicht genau klar, Studien zufolge sind es aber ein bis drei Prozent der Gesamtbevölkerung.

Wir – das sind ich (Fay), Liz, Hannah, Luna, Alex, Alice und der sogenannte Geburtsanteil. Ich übernehme den ganzen Alltagskram, da ich am besten mit Menschen reden und Dinge organisieren kann. Hannah ist erst vier Jahre alt und bewahrt uns ein Stück Kindheit auf. Luna ist neun und noch ziemlich neu. Alice ist 16 und hilft dabei, Sachen nicht immer so negativ zu sehen. Dann gibt es noch Alex, diese Persönlichkeit ist zwischen 16 und 20. Alex erträgt Schmerzen und übernimmt sofort, stoße ich mir zum Beispiel den Zeh. Habe ich wirklich starke Panikattacken, schaltet sich Liz, 20, ein. Die letzte Persönlichkeit ist der Geburtsanteil, der das Trauma trägt. Er ist normal mitgealtert und 18 Jahre alt. Seinen Namen behalten wir für uns, weil er uns triggert. Wahrscheinlich gibt es noch einige weitere Persönlichkeiten. Zwischendurch spüren und hören wir sie, aber wir kennen sie noch nicht wirklich.

Diese dissoziative Störung (DIS) wurde bei mir im vergangenen Jahr diagnostiziert. Die Erkrankung entsteht oft durch traumatische Ereignisse in der frühesten Kindheit. Das Gehirn versucht einen dann zu schützen, indem es die Persönlichkeit in viele eigenständige Persönlichkeiten aufspaltet. Das ist auch bei uns passiert. Über das Trauma sprechen wir aber nicht. Aktuell sind wir auf der Suche nach einem Therapieplatz.

Gerade überlegen wir, in welche berufliche Richtung wir uns bewegen. Ich würde gerne etwas Kreatives machen, wo ich meinen Freiraum habe. In einem Büro mit 20 Menschen sitzen und produktiv arbeiten könnte ich nicht. Liz hingegen würde so einen Bürojob mit Freude machen. Noch sind wir uns nicht einig.

„Wir erleben durchschnittlich zwei- bis dreimal pro Tag unvorhergesehene Switches – manchmal gar keine, manchmal gleich zehn“

Politische Meinungsverschiedenheiten hatten wir bisher noch keine. Wir sind uns recht einig und eher linksorientiert. Wen wir im Herbst bei der Bundestagswahl wählen, haben wir aber noch nicht entschieden. Ich habe noch nie gewählt und bin allein deshalb schon nervös. Am Ende habe ich, Fay, das größte Stimmrecht darüber, wen wir final wählen.

Abends haben wir feste Zeiten, in denen Switches erlaubt sind. Jeder, der gerade möchte, kann jetzt nach außen kommen. So braucht tagsüber niemand das Gefühl zu haben, vorpreschen zu müssen. Dennoch erleben wir durchschnittlich zwei- bis dreimal pro Tag unvorhergesehene Switches – manchmal gar keine, manchmal gleich zehn. Es kommt immer darauf an, in welcher Umgebung ich bin und ob es Trigger gibt wie laute Geräusche, Gerüche, bestimmte Musik oder Menschen, die jemandem ähnlich sehen, der mit meinem Trauma zu tun hat. Da das jederzeit passieren kann, bin ich nur selten alleine draußen. Aber ich kann mich nicht vor allen Menschen verstecken.

Nachdem ich auf YouTube Dokus über andere Erkrankte gesehen habe, habe ich entschieden, selbst offen darüber zu sprechen – damit andere vielleicht auch ihre Stimme erheben und wir uns nicht mehr verstecken müssen. Es kann sehr unangenehm sein, wenn Leute mitbekommen, wie man zwischen Persönlichkeiten wechselt.

Auf meinem TikTok-Kanal teile ich Videos über mein Leben mit DIS. Mein erster Account hatte 46.000 Follower, wurde aber gesperrt – nicht weil ich gegen Community-Richtlinien verstoßen hätte, sondern weil einige User nicht mit meinem Content klarkamen und mich sehr oft „gemeldet“ haben. Auf meinem neuen Account läuft es mit fast 20.000 Followern bisher ganz gut.

Ich bekomme eine Menge Zuspruch, Fragen und positive Nachrichten. Teilweise komme ich gar nicht hinterher, alle zu beantworten. Es gibt natürlich Leute, die negativ eingestellt sind und uns nicht glauben. Auf solche Nachrichten reagiere ich trotzdem freundlich. Die meisten Leute sind dann ganz überrascht, dass da nichts Fieses zurückkommt. So entsteht am Ende oft doch noch ein gutes Gespräch.

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