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Unsere Gesellschaft hat einen Beziehungsfetisch, meint unsere Autorin und schlägt eine Änderung des Grundgesetzes vor

Illustration Freundschaft

Im letzten Jahr wurden in Deutschland nicht nur Scheinehen eingegangen (385 Fälle), sondern auch viele Scheinbeziehungen. Eine Kriminalstatistik gibt es dazu noch nicht, die Scheinbeziehung ist nämlich ein neues Phänomen: Früher log mancher Liebschaften zu Freundschaften herunter, jetzt machen es viele umgekehrt.

Auch ich führte eine Scheinbeziehung. Sie hielt vom 6. bis 24. April, entflammte zu Beginn des verlängerten Osterlockdowns und zerbrach bei dessen Lockerung. Hineinmanövriert hatte mich der Berliner Senat. Oft sind es ja Außenstehende, die einen dazu drängen, ein Verhältnis zu definieren. „Was ist das jetzt mit euch?“ So war es auch in diesem Fall. Aber weil es eine Scheinbeziehung war, war es auch ein Scheingespräch.


„‚Woher kommen Sie?‘, würde der Polizist fragen. ‚Von meiner besten Freundin‘ wäre die wahrheitsgemäße Antwort, ich aber würde sagen: ‚Von meiner festen Freundin‘“

„Halt, Polizeikontrolle!“, riss mich mein imaginärer Gesprächspartner, ein Polizeibeamter, in Gedanken vom Rad. Ich war gerade auf dem Weg nach Hause, jene Zeit, wo man nicht weiß, ob man das Licht jetzt schon um den Lenker quälen muss oder es gerade noch ohne geht. Jedenfalls war es nach 21 Uhr, was dieser Tage in Berlin bedeutete: Ausgangssperre. Wer jetzt noch irgendwo zu Gast saß oder sich ohne triftigen Grund herumtrieb, war quasi kriminell. Außer er besuchte seinen Partner, dann war er redlich. „Woher kommen Sie?“, würde der Polizist fragen. „Von meiner besten Freundin“ wäre die wahrheitsgemäße Antwort, ich aber würde sagen: „Von meiner festen Freundin.“ Jetzt würde der Polizist Beweise fordern: Fotos vom gemeinsamen Frühstück, Flugtickets, die Namen der Eltern. Ich hätte alles parat, bange war mir trotzdem.

Ich war zu dieser Zeit nicht die Einzige, die auf jedem Heimweg imaginäre Dialoge führte, als Training für den Ernstfall. Ich weiß von Menschen, die in den vergangenen Monaten mehr Ausreden erdacht haben als in ihrer gesamten Schulzeit. Gerade atmet Deutschland auf, am 30. Juni ist die Bundesnotbremse ausgelaufen. Aber spätestens mit Delta, Gamma oder Omega könnte die Not zur Notlüge, auch Notstands- oder Notbremsenlüge genannt, wieder groß werden.

Mit einer Freundin nach neun zuhause hocken? Verboten! Mit dem Tinderboy von letzter Woche? Erlaubt!

Umarmte man seine beste Freundin auf der Straße, konnte das in Berlin 500 Euro kosten. Legte man ihr noch schnell die Zunge in den Hals, kam man unter Umständen gratis davon. Selbst die strengsten Kontaktbeschränkungen erlaubten es Paaren zuletzt, zu jeder Tageszeit zusammen zu sein. Wer Single war und allein lebte – und sich dadurch vermutlich einsamer fühlte als die meisten anderen –, musste allein daheim hocken. Warum? Weil dem keine kleinen Steuerzahler entspringen? Sogar grenzüberschreitend reisen durften Paare schließlich, Inzidenz egal. Voraussetzung für „Kurzfristige Besuchsreisen von unverheirateten Partnern zum in Deutschland lebenden Partner“ war erstens, dass man sich schon mindestens einmal getroffen hatte. Ein Wochenende mit dem Tinder-Date aus dem letzten Ischgl-Urlaub? Rein formal kein Problem. Vorübergehend zur Kindergartenfreundin ziehen? Kardinalproblem. Und zweitens sollte die Beziehung „langfristig, d.h. auf Dauer“ angelegt sein. Gut, das dachte ich von den meisten meiner Beziehungen.



„Nicht einmal kapitalistisch ausgeschlachtet wird die Freundschaft. Valentinstag für Freunde? Ich habe gegoogelt, es gibt einen Tag der Freundschaft, aber er gehört ihr nicht allein“

Tatsächlich geht es mir aber gar nicht um die paar Monate Minidiskriminierung. Die Regelungen waren mir offensichtlich auch ein bisschen egal (Anzeigen bitte an die DUMMY-Verlagsadresse). Es geht mir darum, was diese Regelungen offenbaren. Sie zeigen, wie wenig unserer Gesellschaft an Freundschaften gelegen ist, und entblößen eine postmoderne Verhaltensstörung: einen Beziehungsfetisch. Einen maßlosen, blindlingsen, pathologischen Beziehungsfetisch.

Letztens (diesmal ganz legal) saß ich mit zwei Freunden zusammen, nennen wir sie Anja und Barrau. Die Nacht wurde länger, die Flaschen leerer und die Trackauswahl in der Spotify-Warteschlange irrlichternd as fuck. „Okay, wir brauchen Kriterien“, sagte Anja. „Best Lovesongs“, schlug Barrau vor, „jeder darf drei aussuchen.“ Aus drei wurden schnell dreihundert und die Stimmung unter uns Thringles (so heißt unsere Chatgruppe, ein geniales Kofferwort aus three und singles) qualvoll sentimental. „Heyyy und jetzt die besten Friendships-Songs!!!“, versuchte ich das Ruder herumzureißen. „Yaaay!“ Die nächsten Minuten hörten wir den Kühlschrank brummen.

Auch andere künstlerische Huldigungen fallen mir außer ein paar ziemlich besten Free-TV-Klassikern spontan keine ein. Die romantische Liebe, der love interest, ist der Nabel der narrativen Welt, die freundschaftliche Liebe, der sidekick, die Plazenta – nährend, aber fast immer Nebendarsteller. Nicht einmal kapitalistisch ausgeschlachtet wird die Freundschaft. Valentinstag für Freunde? Ich habe gegoogelt, es gibt einen Tag der Freundschaft (30. Juli), aber er gehört ihr nicht allein. Sie teilt sich den Tag mit den Systemadministratoren, dem Zuspätkommen und dem Käsekuchen.

Die israelische Soziologin Eva Illouz nennt die Freundschaft „die große Außenseiterin der Liebe“. Sie beginne weder mit einem Knall, noch ende sie mit einem. Anders als die romantische Liebe sei sie frei von Dramen und Demütigungen, was ich bestätigen möchte, und deshalb langlebiger. Die Freundschaft, findet Illouz, solle viel mehr gewürdigt werden.

Wie sehr wir die romantische Liebe fetischisieren, zeigt sich auch daran, wie differenziert wir sie benennen. Wir führen Hetero- und Homobeziehungen, offene, on- off-ene, polyamouröse, Fern- und toxische Beziehungen. Menschen machen ihre ganze Identität davon abhängig, in wen sie sich verknallen oder eben nicht. Wir sind bi-, inter-, trans-, a- und schieß-mich-tot-was-noch-sexuell. Ist schon mal jemand auf die Idee gekommen, sich über seine Freundschaften zu definieren?

Vorschlag fürs Grundgesetz: Niemand darf wegen seines Beziehungsstatus diskriminiert werden

Es hapert schon am Wording. Da wären Sauf-, Sports- und Schulfreunde, als Kategorien aber komplett unterkomplex. Sie beschreiben schlicht eine Tätigkeit oder einen Treffpunkt und nicht die Art einer emotionalen Verbindung. Die platonischen Freunde und die friends with benefits wiederum existieren einzig in Abgrenzung zu einer „richtigen“ Beziehung. Selbst Aristoteles sind nur drei Arten von Freundschaft eingefallen: die des Nutzens, der Lust und der Tugend. Die inhaltliche Ausführung ist überraschend geistlos.

Dass Verheiratete Vorteile haben, wissen alle Mitversicherten, alle, die Steuerklasse 3 ankreuzen oder schon mal vor Gericht das Zeugnis verweigert haben. In den USA können mittlerweile auch Freundinnen heiraten. In Deutschland gilt derweilen die Ehe für fast alle. Wahrscheinlich ist die mitteleuropäische Zeit noch nicht reif genug. Aber man könnte ja mal darüber nachdenken, ob der beste Freund oder die beste Freundin den Titel „Lebenspartner“ nicht viel eher verdient hat.

Ein bescheidener Anfang für mehr Würdigung wäre eine Änderung des Grundgesetzes. In Artikel 3 steht: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Hier bitte ergänzen: „Und auch nicht wegen seines Beziehungsstatus.“ Und dann noch ein Vorschlag für den vielleicht nächsten Lockdown: Warum nicht einfach jeden eine Person aussuchen lassen, ganz egal ob man nachts mit ihr schläft oder Lieder grölt.

Illustration: Frank Höhne

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.