Thema – Wahlen

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Keine Stimme

Mehrere Millionen Volljährige in Deutschland haben keinen deutschen Pass und können deshalb nicht wählen. Für manche ist das eine bewusste Entscheidung. Das Recht, politisch mitzubestimmen, vermissen sie trotzdem. Ein Gespräch mit drei Deutschtürken

Avni Kazanci

48 Jahre. So lange lebt Avni Kazanci schon in Deutschland. Mit 17 folgte er aus der Türkei seinem Vater, der in Berlin Gastarbeiter war. Fast genauso lange arbeitet er nun schon in Deutschland. Seit einigen Jahren in seinem eigenen Laden in Berlin-Kreuzberg: Im „Taka Fish House“ verkauft er frische Fischgerichte. Gewählt hat Avni aber noch nie in diesem Land, dessen Politik und Gesetze sein Leben bestimmen. Er darf nicht. Weder bei Bundestags- noch bei Kommunalwahlen. Weil er keinen deutschen Pass hat. Avni Kazanci könnte sich einbürgern lassen, um wählen zu dürfen. Dagegen sprechen für ihn aber einige Gründe, zum Beispiel müsste er seine türkische Staatsbürgerschaft aufgeben, um die deutsche anzunehmen. 

„Wir engagieren uns hier, haben unsere Läden, verdienen unseren Lebensunterhalt. Aber nur einer von uns Dreien darf wählen“

„Wir hören immer, wir sollen uns integrieren. Aber ich bin schon so lange hier. Mein Sohn ist hier geboren. Das ist meine Heimat. Warum bin ich immer noch Ausländer?“, fragt Kazanci. An einem heißen Julimorgen sitzt er unter einem breiten Sonnenschirm schräg gegenüber von seinem Laden auf der Terrasse des „Café Kotti“. Neben ihm sitzen sein Sohn Serdar Kazanci und Ercan Yaşaroğlu, der das Café am Kottbusser Tor betreibt. Die drei Männer unterhalten sich, diskutieren, schlürfen zwischendurch an ihren Tassen und pusten Zigarettenrauch in die stickige Sommerluft. „Wir sind alle gleich“, sagt Yaşaroğlu. „Wir engagieren uns hier am Kotti, haben unsere Läden, verdienen unseren Lebensunterhalt. Aber nur einer von uns kann bei der nächsten Bundestagswahl seine Stimme abgeben.“ Die anderen beiden möchten die deutsche Staatsbürgerschaft nicht beantragen und haben daher kein Wahlrecht. 

Yaşaroğlu kam 1982 als politscher Flüchtling aus der Türkei nach Kreuzberg und nahm 1987 die deutsche Staatsbürgerschaft an. Seitdem ist er zu jeder Wahl gegangen. Wenn er davon spricht, sagt er, er wolle sein „demokratisches Recht nutzen“. In den Achtzigern, als die Regierung Kohl sogenannten Gastarbeiter*innen sogar Geld bot, um sie wieder in ihre Heimatländer zurückzuschicken, erzählt er, habe er schnell gemerkt, „dass ich lauter werden muss, wenn ich hier als Bürger anerkannt werden will“. Der Mann mit dem vollen grauen Haar und der schwarzen Brille ist nicht nur Cafébetreiber, sondern auch Sozialarbeiter. Seit Jahren setzt er sich für die Rechte von Menschen mit Migrationsbiografie in seinem Kiez ein, und sein „Café Kotti“,das im ersten Stock der 70er-Jahre-Betonburg „Zentrum Kreuzberg“ liegt, ist eine Kreuzberger Institution. Hier mischt sich ein (post-)migrantisches Publikum mit Biodeutschen, Expats und Tourist*innen. Ein Begegnungsort – so ist es von Yaşaroğlu ausdrücklich gewollt. Die Vielfalt, von der immer so viel gesprochen wird, sagt er, die passiere hier ja längst. Die Politik komme nur nicht hinterher. 

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Ercan Yaşaroğlu

Ercan Yaşaroğlu ist mit seinem Café Kotti eine Institution am Kottbusser Tor. Seinen Freunden rät er, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen – um endlich wählen zu können und die Gesellschaft, in der sie leben, mitzugestalten

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – so steht es im Grundgesetz. Wer dieses „Volk“ ist und wer nicht, ist in Deutschland klar geregelt. Als nicht zugehörig, zumindest was das Wahlrecht betrifft, gelten Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Um die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, muss man eine Reihe von Anforderungen erfüllen. Ein paar davon sind gar nicht mal so einfach. Darunter: einen auf Dauer angelegten Aufenthaltstitel besitzen, den eigenen Lebensunterhalt und den der unterhaltsberechtigten Angehörigen selbst sichern können, man darf noch nicht wegen einer Straftat verurteilt worden sein und muss andere Staatsangehörigkeiten in der Regel aufgeben. Und manche Menschen könnten die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen, wollen jedoch nicht, weil sie ihre Prioritäten anders setzen.

Ein Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1990 besagt: Wählen dürfen nur deutsche Staatsbürger*innen – und seit einer Änderung des Grundgesetzes 1992 EU-Ausländer*innen bei Kommunalwahlen. In Zahlen bedeutet das: In Berlin dürfen fast 800.000 Bewohner*innen – rund ein Fünftel der Einwohner*innen – bei der Bundestagswahl nicht wählen, weil sie nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Bundesweit gibt es mehr als 9,5 Millionen Menschen über 20 Jahre, die mit ausländischem Pass im Land leben. Die meisten von ihnen stammen aus der Türkei, die kein EU-Mitglied ist: über 1,4 Millionen. „Für diese Menschen wird in Deutschland keine Politik gemacht“, sagt Ercan Yaşaroğlu. 

Serdar könnte die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen, müsste dann aber die türkische abgeben. Er will sich nicht entscheiden müssen

Das gilt auch für Avnis Sohn Serdar Kazanci. „Der ist sogar noch länger da als ich“, wirft Yaşaroğlu ein, wobei er mit seiner brennenden Zigarette gestikuliert. Serdar ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, hat hier studiert, ist politisch interessiert und arbeitet in einem Immobilienunternehmen. Gerade ist er 40 geworden. Er hat nie woanders gelebt als in Berlin. Serdar könnte die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen, müsste dann aber die türkische abgeben. „Ich will mich nicht entscheiden müssen. Ich bin Türke und möchte meine Kultur nicht aufgeben. Natürlich bin ich auch Deutscher. Aber für Politiker werde ich das nie sein. Sobald sie nicht mehr weiterwissen, pochen sie auf Blut und Abstammung“, sagt er. 

Zwar gilt seit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 nicht mehr nur das Prinzip der Abstammung, sondern auch das des Geburtsortes: Seitdem können in Deutschland geborene Kinder unter bestimmten Umständen auch einen deutschen Pass erhalten, wenn ihre Eltern eine andere Staatsbürgerschaft haben: Dafür müssen die Eltern seit mindestens acht Jahren in Deutschland leben und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzen. Für Serdar und alle anderen vor 2000 Geborenen gilt das aber nicht. Sie müssen bei der Einbürgerung dieselben Anforderungen erfüllen wie alle anderen auch.

Vielleicht ist es Trotz, vielleicht ist es die Verletzung, sich nicht willkommen zu fühlen

Serdar hat inzwischen das Gefühl, dass er selbst mit deutschem Pass nie richtig anerkannt würde. Auch deshalb wolle er die Staatsbürgerschaft nicht annehmen, erklärt er. Vielleicht ist es Trotz, vielleicht ist es die Verletzung, sich nicht willkommen zu fühlen. „Ein Stück Papier macht in der Hinsicht keinen Unterschied. Ich verstehe nicht, warum man das Wahlrecht nicht an die Aufenthaltsdauer binden kann. Oder warum ich nicht wenigstens auf Kommunalebene wählen darf.“ 

In einigen Ländern funktioniert das längst so: Etwa in Chile, Uruguay oder Neuseeland dürfen Ausländer*innen wählen. Bedingung dafür ist eine Mindestaufenthaltszeit, in Neuseeland beträgt sie ein Jahr. Und in 16 von 27 EU-Staaten dürfen bestimmte Gruppen von im Land lebenden Drittstaatsangehörigen immerhin kommunal wählen. 

Serdar Kazanci

Serdar ist in Deutschland geboren und lebt hier seit 40 Jahren. Er fühlt sich auch als Deutscher, will sich aber nicht für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssen. Von der Politik fühlt er sich ausgegrenzt

Alle drei – Ercan, Avni und Serdar – reden viel über Politik. So wie jetzt an dem kleinen Marmortisch, die Arme auf die Metallbrüstung gestützt, über den Lärm von hupenden Autos und rangierenden Getränkelastern hinweg. Sie reden über den Wahlkampf der Grünen, die Politik der AfD und den Berliner Senat, über Drogenhandel und Polizeieinsätze am Kottbusser Tor, über „Willkommenskultur“- und „Leitkultur“-Debatten. Zu fast allem haben sie ihre Meinungen, Forderungen, Ideen. 

Nur dass sie dem nicht mit ihrer Wahlentscheidung Ausdruck verleihen können, weil sie keine deutschen Staatsbürger sind. Avni sagt: „Es macht mich wütend. Ich fühle mich von allen Parteien allein gelassen. Ich sehe keine, die sich für uns starkmacht. Ich finde das verlogen. Die von der AfD sagen es einem wenigstens ins Gesicht, dass sie einen nicht hier haben wollen, dass man abhauen soll.“ Serdar sagt: „Ohne unser Kreuz auf dem Wahlzettel, haben wir keine Stimme. Und ohne unsere Stimme gibt es bei den Politikern auch keinen Handlungsbedarf.“

„Wenn so viele Millionen Menschen nicht wählen können, dann stimmt etwas nicht mit unseren demokratischen Werten“

Vielleicht kann man das nirgendwo so gut sehen wie hier am Kotti. Wenn sich hier ein Rapper für ein Musikvideo vor die Wohnblöcke stellt, erzählt sich der Rest von allein. Das „Zentrum Kreuzberg“ gilt als Brennpunkt der Kriminalität. Ein Hochhaus mit zwölf Etagen und schlechtem Image – mitten im eigentlich seit Jahren durchgentrifizierten und hippen Kreuzberg. Was stimmt: Der Kotti ist nach wie vor ein großer Drogenmarktplatz, und man fragt sich, warum sich hier eigentlich seit Jahren so gut wie nichts ändert – inmitten einer Stadt, in der sich ständig alles ändert. Ercan Yaşaroğlu, der mehrere Anti-Gewalt-Initiativen am Kotti gestartet hat, sagt: „Die kulturelle Vielfalt hier ist eigentlich ein Reichtum. Die sollte man als Labor für unsere zukünftige Gesellschaft nutzen. Aber weil es hier keine Wählerstimmen zu holen gibt, lohnt sich auch keine politische Handlung.“ Mindestens 70 Prozent der Anwohner*innen, so schätzt Yaşaroğlu, haben hier keine Wahlberechtigung. „Die paar restlichen Stimmchen sind den meisten Politikern egal.“  

Ercan Yaşaroğlu würde seinen beiden Freunden raten, die Staatsbürgerschaft anzunehmen, sagt er. Es gehe auch um die Verantwortung, die Gesellschaft mitzugestalten, in der man lebt. „Wenn so viele Millionen Menschen nicht wählen können, dann stimmt etwas nicht mit unseren demokratischen Werten.“ Avni hat seinen Kaffee ausgetrunken und wippt unruhig mit dem Fuß. Er muss zurück in seinen Laden. Auch Ercan und Serdar müssen weiter. Ihr deutscher Alltag wartet auf sie. 

Fotos: Hahn&Hartung

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