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Junge, komm bald wieder

Weil Jobs fehlen, verlassen viele junge Menschen Rumänien. Welches Risiko sie auf der Suche nach Arbeit eingehen, zeigt Adrians Geschichte

Adrian

Ein maßgeblicher Teil von Adrian Popescus Tag ist fürs Träumen reserviert. Eines Tages will er ein deutsches Auto fahren. Das seien die besten. Er will Karriere machen, heiraten, in einem großen Haus leben. Anfang Februar stellt ihm ein Mann einen Job beim deutschen Lebensmittelunternehmen Tönnies in Aussicht. Ist das seine Chance?

Eine Woche nach seiner Ankunft sitzt Adrian auf dem Boden einer Einkaufsmeile in Baden-Württemberg. Es ist Februar, minus zehn Grad, der bislang kälteste Tag im Jahr. Adrian umklammert einen Pappbecher. Seine Finger sind rot, an anderen Stellen blass, fast blau. Heute wird er wieder im Parkhaus schlafen.

Auf Facebook stößt Adrian auf ein Jobangebot

Am Abend, als Adrian Popescu beschließt, Rumänien zu verlassen, ist sein Schulabschluss vier Jahre her. Seitdem sucht er einen Ausbildungsplatz. Eigentlich wollte er ein Handwerk lernen, mit Holz arbeiten, eine eigene Firma gründen. Inzwischen ist er 21 und möchte nur noch eins: Geld verdienen.

Adrian lebt mit seiner zehn Jahre älteren Schwester Liana und seiner Mutter in einem kleinen Haus am Stadtrand. Liana hat in einem Textilgeschäft gearbeitet; als es pleiteging, wurde sie entlassen. Seitdem sucht auch sie einen Job. Für umliegende Bauern und Nachbarn erledigen die Geschwister kleine Jobs. Sie helfen beim Renovieren oder der Ernte, reparieren Wasserhähne, flicken Hosen. Das Geld reicht, um satt zu werden. Auf Facebook nennt Adrian sich den „Boss von Târgu Mureș“. Auf den Fotos in seiner Timeline trägt er weiße Hemden, posiert vor großen Autos, die nicht seine sind. Frauen kommentieren seine Posts mit Herzen. Um dieses Bild aufrechtzuerhalten, will er seinen echten Namen auch nicht in diesem Text lesen.

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Auch Marco Richard ist aus einer rumänischen Kleinstadt zum Arbeiten nach Deutschland gekommen – als Erntehelfer. Von seinen Erfahrungen und den Arbeitsbedingungen der Saisonarbeitskräfte lest ihr hier.

Auf Facebook entdeckt der „Boss“ einen Post: Ein Mann ruft junge Menschen auf, sich für Arbeit bei einem deutschen Konzern zu melden: Europas größtem Schlachtunternehmen Tönnies. Das funktioniert: Im EU-Vergleich hat Rumänien seit Jahren mit die höchsten Anteile junger Menschen ohne schulische oder berufliche Ausbildung. Die Jugendarbeitslosigkeitsquote ist zwar bis zur Corona-Pandemie mehrere Jahre in Folge gesunken, aber mit heute 16 Prozent immer noch vergleichsweise hoch. So zieht es jedes Jahr Tausende junge Rumän:innen ins Ausland. Auch Adrian hinterlässt unter dem Post seine Telefonnummer.

Wenig später bekommt er bei WhatsApp ein Foto geschickt: Es zeigt zwei Menschen, die helle Kittel tragen und blaue Hauben und große Brocken Fleisch in den Händen. Ihre weißen Schuhe stehen im Blut. Den Namen Tönnies kennt jeder in Târgu Mureș. Wer für ihn arbeitet, hat es geschafft, glaubt auch Adrian. Er kennt Leute, die im Schlachtbetrieb arbeiten und ihren Familien Geld schicken können. Noch am selben Abend beschließt Adrian, Rumänien zu verlassen.

Er ist einer von vielen. Im Bus nach Deutschland sitzen sie dicht gedrängt. „Wenn die Verzweiflung groß ist, fahren die Menschen los, ohne genau zu wissen, was sie erwartet. Wenn nichts im Kühlschrank ist, kann man keine Zukunft planen“, sagt Stanimir Mihaylov. Er arbeitet im Projekt „Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten“ des Vereins Arbeit und Leben in Düsseldorf, berät dort Migrant:innen aus der EU. Mihaylov wurde in Bulgarien geboren, er kam als junger Mann zum Studieren nach Deutschland. „Ich kenne das Gefühl der Perspektivlosigkeit“, sagt er. Bulgarien hat eine ähnliche Jugendarbeitslosenquote wie Rumänien.

In Deutschland angekommen, steht er plötzlich vor dem Nichts

In Reutlingen angekommen, erwartet Adrian ein Mann, der ihn zur Unterkunft bringen soll. So hatte es der Vermittler auf WhatsApp versprochen. In brüchigem Rumänisch erklärt er nun, das Angebot sei geplatzt, die Stelle nicht mehr zu vergeben: Corona. Dann ist er verschwunden.

Adrian steht mit nichts als einer Tasche am Bahnhof in einem Land, dessen Sprache er nicht spricht. Der Akku seines Smartphones ist leer, er weiß nicht, wo er übernachten soll.

Was Adrian widerfahren ist, sei systematischer Betrug, sagt Mihaylov, und kein Einzelfall: Subunternehmer würden im Internet mit gutem Gehalt, einer Unterkunft, einer Zukunft in Deutschland locken. „Vor Ort sieht die Situation dann aber oft anders aus.“ Manche Vermittler behaupten nur, für offizielle Subunternehmer zu rekrutieren und streichen die Vermittlungspauschalen ein. Andere arbeiten wirklich für die Unternehmen, brechen aber wie in Adrians Fall den Kontakt ab, wenn alle Stellen besetzt sind oder ein Betrieb pandemiebedingt schließen muss. Bei Tönnies sei dieses Vorgehen nicht bekannt und würde nicht akzeptiert, hieß es auf fluter.de-Anfrage von einem Sprecher des Unternehmens.

Jugendarbeitslosigkeit in Europa

Gerade fertig mit Studium oder Ausbildung – und kein Job in Sicht: Menschen unter 25 treffen Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Ausbildungsplätzen besonders hart. In der Corona-Pandemie hat sich die Situation noch mal verschärft. Allein bei der Beratungsstelle, in der Stanimir Mihaylov arbeitet, haben sich die Anfragen verdoppelt.

Die Gesamtstatistik bestätigt diesen Eindruck. Die Jugendarbeitslosenquoten sind zwar prinzipiell höher als die Gesamtarbeitslosenquoten (viele Jugendliche im potenziell erwerbsfähigen Alter gehen wegen der Schulpflicht oder eines Studiums nicht arbeiten). Derzeit liegt die Jugenderwerbslosenquote in der EU aber bei 17,1 Prozent – mehr als doppelt so hoch wie die Gesamtarbeitslosenquote.

Besonders betroffen sind neben Rumänien auch Italien, Griechenland oder Spanien. Dort kam es zuletzt immer wieder zu Protesten gegen die Regierungen – die Demonstrierenden fordern Reformen des Bildungssystems und höhere Mindestlöhne.

14 Tage sind seit Adrians Ankunft in Deutschland vergangen. 14 Tage auf der Straße. Er bettelt in der Innenstadt, schläft bei Minusgraden in einem Parkhaus. Als er versucht, einen Platz in einer Notunterkunft zu bekommen, wird er abgewiesen. Weil die Notunterkunft überlastet sei, heißt es. Auch dass Adrian keinen deutschen Pass hat, könnte ein Faktor gewesen sein: Wie viele Betreiber von Notunterkünften meldet auch die AWO Reutlingen seit Jahren, dass sie überfordert sei von der Masse osteuropäischer Obdachloser.

Adrian ist leiser geworden in diesen Tagen, hält den Kopf leicht gesenkt. Er wirkt wie ein Junge. Die Kleidung ist schmutzig und feucht, seit Tagen kann er sich nicht richtig waschen. Hilfe anzunehmen falle ihm schwer, sagt Adrian. „Ich möchte keine Umstände machen. Es geht schon.“

In einem Einkaufszentrum lädt er sein Handy, nutzt das freie WLAN, um seiner Mutter zu schreiben. Ein Bekannter schickt ihm auf Facebook ein Angebot: Arbeit in München, in einem Schlachtbetrieb. Mit dem erbettelten Geld kauft Adrian ein Zugticket.

An seinem Geburtstag zerlegt Adrian Schweine – neun Stunden lang 

Der Schlachtbetrieb steht am Rand von München. Adrian lebt auf dem Gelände, in einem Backsteingebäude mit Kachelofen, das er sich mit 15 anderen Arbeiter:innen teilt. Viele kommen ebenfalls aus Rumänien, ihre Betten stehen dicht beieinander.

Die Tage sind lang, mindestens neun Stunden arbeitet Adrian in den grauen Hallen. „Am Abend tun mir Hände und Rücken weh, aber ich bin meistens so erschöpft, dass ich direkt einschlafe“, sagt er am Telefon. Wer sich beschwere, dem werde die Kündigung angedroht. Also beschwert Adrian sich nicht. Auch nicht, als er am 3. März 22 Jahre alt wird. An seinem Geburtstag zerlegt er Schweinehälften.

Die Arbeit in den Fleischfabriken sei körperlich nicht lange durchzuhalten, sagt Stanimir Mihaylov. Er habe oft erlebt, dass Leuten gekündigt werde, die nicht mehr weiterarbeiten konnten; die mit dem Arbeitsplatz dann auch ihre Unterkunft verlören. Eine Situation, die oft ausweglos erscheint. Adrian erzählt von seinem Cousin, dem kürzlich in einem deutschen Schlachtbetrieb gekündigt wurde. Seitdem sei er nur noch mit einer Flasche Jägermeister in der Hand anzutreffen.

Seit April 2021 ist Leiharbeit in der Fleischindustrie verboten. Für die Arbeiter:innen könne das Verbot eine Grundlage sein, um sich rechtlich gegen Großkonzerne zu wehren, sagt Mihaylov. Ob es ihre Situation konkret verbessert, müsse sich erst noch zeigen.

Für Adrian kommt das Verbot zu spät: Zwei Wochen nach seinem Geburtstag muss der Betrieb schließen. Etliche Arbeiter:innen haben sich mit Corona angesteckt. Adrian wird entlassen, bevor er überhaupt einen Vertrag unterschrieben hat. Er ist müde, verzweifelt und fast pleite. Adrian Popescu kann nicht mehr. Und kauft sich mit dem Geld, das er verdient hat, ein Busticket zurück nach Rumänien.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.